Arved Schönberger
Aktuelle Entwicklungen im Erweiterungsdiskurs
Wachstum als Kern der EU
Die Geschichte der Europäischen Union ist auch eine Geschichte der permanenten Erweiterung. Man kann fast sagen, dass Expansion und Wachstum mit zur DNA der EU gehört. Dabei lassen sich mehrere Phasen feststellen. Von den Anfängen und der Neuordnung Europas nach dem Zweiten Weltkrieg, der Gründung der Ursprungsorganisationen, der Montanunion für Kohle und Stahl, Euratom über die Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) mit den Gründungs- und Kernmitgliedern Frankreich, Deutschland, Belgien, Luxemburg, Niederlande und Italien erwies sich der eingeschlagene Weg als äußerst vorteilhaft für alle Beteiligten. Teil einer prosperierenden Wirtschaftszone zu sein, sich dieser anzuschließen, ist sowohl für Anschlusswillige, als auch die Wirtschaftszone selbst äußerst attraktiv. In mehreren Erweiterungsphasen wuchs die EU zu ihrer heutigen Größe. Dabei kamen 1973 Dänemark und Irland hinzu, 1981 Griechenland, mit der Süderweiterung 1986 Spanien und Portugal, 1995 Österreich, Finnland und Schweden und als letzte größere, die Osterweiterung – zusammen mit Zypern und Malta und 8 Osteuropäischen Staaten 2004 sowie 2007 noch Bulgarien und Rumänien. Als letztes Mitglied trat Kroatien 2013 der EU als Vollmitglied bei.
Einen Dämpfer erhielt diese Entwicklung jedoch 2016 mit dem Beschluss durch ein Referendum Großbritanniens, als erster EU Mitgliedsstaat überhaupt, die Europäische Union zu verlassen. Seit 2020 zählt die EU nach dem Austritt Großbritanniens noch aktuell 27 Staaten als Mitglieder.
Herausforderungen des Wachstums
Dies zeigt, dass der Expansionskurs keine Einbahnstraße ist und die Mitgliedschaft in der EU auch Widersprüche gegenüber der Nationalstaatlichkeit enthält. Jede Expansion wirkt sowohl auf das innerliche Gefüge der Union selbst, wie auch auf den inkludierten Staat. Die Aufgabe besteht darin, das Funktionieren und die Organisation permanent durch Reformen und kritische Selbstreflexion an die eigene Entwicklung anzupassen. Denn neben der geographischen Expansion ist gleichzeitig auch der Einfluss und Steuerungsanspruch der Organisation an sich gewachsen und ein komplexes System entstanden, was in nahezu alle Lebensbereiche hineinwirkt. Was als Koordinationsgremium für die Industriezweige, Kohle, Stahl und Atomkraft begann und sich zu einer gemeinsamen Zollunion entwickelte, ist heute eine Organisation, die einen der wichtigsten Global-Player darstellt, die gemeinsame Währung bestimmt, gesetzliche Reglementierungen vornimmt und Gelder verteilt, ohne die die Gesellschaften in den Mitgliedsstaaten kaum funktionieren würden. Dieser ständige Prozess ist weiter in Bewegung und ein Ende dieser Entwicklung ist nicht absehbar. Denn derzeit gibt es eine ganze Reihe von Staaten, die eine EU-Vollmitgliedschaft anstreben.
Um die Aufnahme neuer Mitglieder möglichst schadfrei für die bestehende Union zu bewerkstelligen, gibt es einen formalen Prozess, an dessen Ende das Neumitglied kompatibel genug sein sollte, so dass eine Aufnahme möglichst risikoarm vollzogen werden kann.
Große Vielfalt unter den Beitrittskandidaten
Derzeit haben 8 Staaten einen offiziellen Beitrittskandidatenstatus und zwei Länder einen potentiellen Beitrittskandidatenstatus. Also buhlen 10 Staaten aktuell um die Aufnahme in die EU und durch den Status als Beitrittskandidat signalisiert die EU selber, dass dies auch realistisch scheint. Dies sagt jedoch noch nichts über einen zeitlichen Rahmen, den zu unternehmenden Anstrengungen sowie einer Erfolgsgarantie aus. Hier gilt es jedes Land für sich zu betrachten, sind doch die Unterschiede teils enorm. Auf der Liste befindet sich unter anderen die Türkei neben Serbien, Kosovo und Albanien genauso wie jüngst die Ukraine und Bosnien-Herzegowina. Eine äußerst uneinheitliche Mischung, wobei jeder Kandidat seine spezifischen Problematiken aufweist und auch einen spezifischen Prozess erfordert.
Um welche Länder geht es
So ist die Beitrittskandidatengeschichte der Türkei eine der längsten und hat ihren Ursprung in der Zeit, als die EU noch Europäische Wirtschaftsgemeinschaft hieß. Doch sind die Verhandlungen seit Jahren auf Eis gelegt, da sich die Türkei entgegen den Werten der EU entwickelte, hin zu diktatorisch, autokratischen Verhältnissen. Die Ukraine hingegen befindet sich in einem Krieg mit ungewissem Verlauf und Ausgang – ein Umstand, der den Status als Beitrittskandidat im Grunde konterkariert. Ebenfalls problematisch Kosovo, im Grunde kein selbstständiger Staat und international nicht vollständig anerkannt. Eine UN Friedensmission schützt den Status, der nach dem Kosovo Krieg von 1999 entstanden ist. Ohne weitreichende Unterstützung der Europäischen Union und den Vereinten Nationen wäre Kosovo nicht lebensfähig. Serbien, ebenfalls offizieller Beitrittskandidat erkennt das Kosovo nicht an und zählt es zum eigenen Territorium. Ethnische Konflikte mit der serbischen Bevölkerung des Kosovo flammen regelmäßig auf. Albanien, Serbien, Bosnien-Herzegowina sowie Montenegro waren Schauplätze blutiger Kriege, die mit dem Zerfall Jugoslawiens und dem Ende des Ost-Blocks zusammenhängen. Eine Integration dieser sich einst bekriegenden Regionen in die Friedensgemeinschaft der Europäischen Union, ist eine ganz spezielle Herausforderung, die aber auch große Chancen bietet. Aus einstigen Feinden wieder Brüder und Freunde zu machen, ist ein heroisches Ziel, was auch den Ursprüngen der Europäischen Union entspricht.
Bei einigen Kandidaten ist der Beitrittsprozess schon vorangekommen und die ersten Verhandlungskapitel abgeschlossen, andere sind gerade erst frisch Kandidaten oder potentielle Kandidaten geworden.
Hierzu eine kurze Übersicht:
- Albanien – Kandidatenstatus seit 2014
- Bosnien und Herzegowina – Kandidatenstatus seit 2022
- Moldau – Kandidatenstatus seit 2022
- Montenegro – Beitrittsverhandlungen seit 2012
- Nordmazedonien – Kandidatenstatus seit 2005
- Serbien – Beitrittsverhandlungen seit 2014
- Türkei – Beitrittsverhandlungen seit 2005 (derzeit eingefroren)
- Ukraine – Kandidatenstatus seit 2022
- Georgien – potentieller Beitrittskandidat
- Kosovo – potentieller Beitrittskandidat
Vom potentiellen Beitrittskandidaten bis hin zum EU-Vollmitglied ist es oftmals ein langer Weg, der natürlich auch von der Ausgangslage abhängt. Ein Land mit hohem Wohlstand, einer funktionierenden Demokratie und gleichen Werten hat eine wesentlich kürzere Strecke hierfür zurückzulegen, als ein Land, das gerade aus diktatorischen Zwängen befreit ist und in dem ein Krieg tobte. Aber wie genau funktioniert der Weg vom Kandidaten zum Mitglied?
Der Prozess zur EU-Mitgliedschaft, das Beitrittsverfahren
An erster Stelle steht der Entschluss, eine Mitgliedschaft überhaupt anzustreben. Werden diesem Wunsch halbwegs realistische Erfolgsaussichten eingeräumt, kann der Beitrittsprozess beginnen.
Zur Einschätzung der Erfolgsaussichten spielen die so genannten Kopenhagener Kriterien eine Rolle. Diese sollten weitestgehend schon bei der Antragsstellung erfüllt sein.
Die Kopenhagener Kriterien beinhalten im Wesentlichen 3 Punkte:
- Das Beitrittsland sollte über ein stabiles demokratisches System verfügen. Dazu gehört Rechtsstaatlichkeit ebenso wie die Wahrung der Menschenrechte und Minderheitenschutz.
- Eine stabile und funktionsfähige Marktwirtschaft vorausgesetzt, die auch in der Lage ist, dem Wettbewerb und Druck innerhalb der EU standzuhalten. Die Offenheit der Märkte gegenüber dem Ausland sollte ebenfalls gegeben sein.
- Die Fähigkeit und den Willen, die Pflichten und Normen der EU zu übernehmen. Dies gilt insbesondere für das EU Recht mit allen Gesetzen und Vorschriften und die Fähigkeiten, diese auch um- und durchzusetzen. Es gilt, die politischen und wirtschaftlichen Ziele der Union zu übernehmen und auch Teil der Wirtschafts- und Währungsunion zu sein.
Dies sind im Groben die Grundvoraussetzungen, die ein Beitrittskandidat vor Augen haben sollte, damit ein Mitgliedsantrag Erfolgsaussichten hat.
Der weitere Weg zum Beitritt
Je stabiler das demokratische System, je ausgeprägter die demokratischen Aspekte, das heißt Gewaltenteilung, unabhängige Justiz, Meinungs- und Pressefreiheit, ein dem Wählerwillen entsprechendes Wahlsystem etc., desto bessere Chancen. Gleiches gilt für die Wirtschaft und dem bereits vorhandenen Wohlstand. Zwar nicht in den Kopenhagener Kriterien mit aufgeführt aber dennoch von großem Vorteil ist die kulturelle Dimension. Wenn die Gesellschaft ähnliche Werte, Traditionen und Ideen teilt, wie die westlich geprägten EU-Länder, ist dies ebenfalls von nutzen. Auch wichtig, die geografische Lage, bestenfalls innerhalb des Kontinents Europa und angrenzend zu mindestens an einen EU-Staat.
Ist der Wille da und wird die Perspektive als realistisch eingeschätzt, schickt das beitrittswillige Land einen offiziellen Aufnahmeantrag an den Rat der EU. Dieser berät sich anschließend mit der EU-Kommission. Es wird geprüft, inwieweit die Kopenhagener Kriterien erfüllt werden können und ob eine realistische Perspektive besteht. Ist dies der Fall, beschließt der EU Rat den Beginn des Beitrittsverfahrens. Danach entsteht der Fahrplan, es wird im Detail geguckt, welche Reformen und Anpassungen in den einzelnen Bereichen erfolgen müssen. Diese werden in thematischen Kapiteln festgehalten, in der Regel sind dies 35 einzelne Kapitel. Für die Umsetzung erhalten die Beitrittskandidaten bereits finanzielle und fachliche Unterstützung durch die EU. Um die einzelnen Kapitel zu öffnen und abzuschließen benötigt es die einstimmige Zustimmung aller EU Mitgliedsstaaten. So kann das Veto nur eines EU Staates den Prozess blockieren, was die ganze Sache zu einem hochkomplexen politischen und verwaltungstechnischen Prozess werden lässt. So blockierte Griechenland beispielsweise etliche Jahre das Beitrittsverfahren Nordmazedoniens. Erst nachdem sich das Land von Mazedonien in Nordmazedonien umbenannte, gab Griechenland seine Blockadehaltung auf. Als Grund galt die gleichnamige griechische Provinz Mazedonien und daraus resultierende eventuelle Gebietskonflikte. Jährlich legt die EU Kommission dem Rat einen Fortschrittsbericht zum Stand des Beitrittsprozesses vor. Sind alle 35 Kapitel eröffnet und positiv abgeschlossen, also alle Reformen, Gesetze und Prozesse so geeicht, dass eine größtmögliche Kompatibilität zur EU besteht und alle Forderungen erfüllt sind – legt die Kommission einen abschließenden Fortschrittsbericht dem Rat vor. Dieser muss dann einstimmig die Aufnahme von Verhandlungen beschließen. Anschließend kommt es zu einer Beitrittskonferenz mit allen EU Mitgliedern und dem Beitrittskandidaten. Dort wird noch einmal auf die Erfüllung der einzelnen Kapitel geschaut und bei Bedarf auch noch weitere aufgestellt, die dann wiederum erfüllt werden müssen. Ist dann irgendwann alles restlos geklärt, unterzeichnet eine Verhandlungsdelegation, bestehend aus Mitgliedern der Kommission, dem Rat und Abgeordneten des Neumitglieds, den Entwurf der Beitrittsakte.
Zudem legt die Kommission dem Rat noch eine nicht bindende Stellungnahme vor, die die aktuelle Lage und die konkrete Chance der Beitrittsmöglichkeit aufzeigt. Anschließend wird die Beitrittsakte dem EU Parlament vorgelegt. Stimmt es mit absoluter Mehrheit für den Beitritt, ist es fast geschafft. Jetzt muss nur noch der Rat den Beitrittsvertrag unterzeichnen und das künftige EU Mitglied muss mit allen EU-Mitgliedern den Vertrag ratifizieren, also alle Staats- und Regierungschefs der Mitgliedsländer müssen unterzeichnen und gegebenenfalls die Zustimmung ihrer Parlamente einholen.
Wie lange dauert der Beitrittsprozess
Wie lange solch ein Mitgliedsverfahren dauert, ist sehr unterschiedlich und es gibt auch keine Erfolgsgarantie. Das jüngste EU-Mitglied Kroatien brauchte von der Antragstellung bis zur Vollmitgliedschaft rund 10 Jahre, vom Antrag 2003 bis zur Aufnahme 2013. Weitere 10 Jahre später ist Kroatien seit 2023 dann auch Teil des Schengen-Raums sowie des Euro-Währungsraums. Finnland hingegen schaffte es von der Antragstellung 1992 in nur 3 Jahren bis 1995 zum Vollmitglied. Die Voraussetzungen waren bereits vor Antragsstellung äußerst EU kompatibel.
Da die EU im Laufe ihrer Entwicklung ein immer komplexeres Wesen annimmt, wird es tendenziell auch nicht einfacher Kompatibilität herzustellen, so dass künftige Beitrittsverfahren eher mehr Zeit beanspruchen dürften. Entscheidend sind zudem der politische Wille und der erhoffte Zugewinn bei einer Aufnahme. Würde die Schweiz beitreten wollen, wäre das Verfahren ein ganz anderes, als das von Serbien beispielsweise. Es gibt zwar ein geregeltes Verfahren, aber wie dieser Prozess sich gestaltet, ist von Kandidat zu Kandidat individuell.
Motivation für einen EU Beitritt
Was ist allerdings so attraktiv daran, dieser Staatengemeinschaft mit derzeit 27 Mitgliedern beizutreten? Warum sich einem jahrelangen mühseligen Prozess aussetzen, der in der Regel gewaltige Anstrengungen verlangt und nicht selten ein hohes Maß an Frustrationstoleranz?
Zudem gibt es auch bei einer EU Mitgliedschaft die zwei Seiten der Medaille aus Vor- und Nachteilen. So gibt es eine ganze Reihe von Staaten, wie Norwegen, die Schweiz oder Island, die bestens geeignete potentielle Mitglieder wären, sich jedoch gegen eine derzeitige Mitgliedschaft entschieden haben. Und mit Großbritannien gab es gar den ersten Austritt in der EU-Geschichte. Eine Mitgliedschaft will also gut durchdacht sein.
Kommen wir zu den Vorteilen
Hier sticht der wirtschaftliche Faktor heraus, bildet er ja auch den historischen Kern dieser europäischen Gemeinschaft. Es ist ein zusammenhängender Wirtschaftsraum, der hinter den USA und China der drittstärkste der Welt ist. Die Bündelung dieser ökonomischen Stärke lässt die EU als einflussreichen und mit-dominierenden Player global auftreten. Als Mitglied profitiert ein Land von dieser Macht und erhält Vorteile durch Wirtschaftsabkommen, Investitionen, im Rohstoffhandel, Exporten und partizipiert von dieser Macht- und Verhandlungsposition. Sprich, man ist Teil einer führenden Weltmacht. Nach innen betrachtet ist jedes EU Mitglied Teil eines gewaltigen Binnenmarktes, der zudem einige der wohlständigsten Regionen der Welt beinhaltet.
Waren und Personen können frei fließen, Investitionen leichter getätigt werden. Hierbei zeigt sich jedoch auch schon die Zweischneidigkeit. Nicht umsonst heißt es in den Kopenhagener Kriterien, dass der Markt und die Wirtschaft konkurrenzfähig sein sollten, der Öffnung zum europäischen Binnenmarkt standhalten sollte. Kapital und Waren der etablierten starken EU-Länder überschwemmen schlimmstenfalls das Land und führen zu großen Verwerfungen in der heimischen Wirtschaft und einer Dominanz dieser. So sind beispielsweise nach der EU-Osterweiterung der Einfluss und die Dominanz westeuropäischer Konzerne in Osteuropa erheblich gestiegen, besonders im Automobil- und Medienbereich. Ein Betritt beinhaltet sowohl Risiken als auch Chancen für die Wirtschaft, dies gilt umso mehr, je höher das Wohlstandsgefälle ist. Niedrige Löhne laden beispielsweise zur Verlagerung von Produktionskapazitäten und Investitionen ein. Ein gemeinsames Rechtssystem mit Standards und Normen schützt hierbei jedoch auch vor „Wild-West-Szenarien“.
Einer der gewichtigsten Vorteile ist die Anbindung an die Finanzstruktur und Finanzflüssen der Union, verbunden mit der Förderungs- und Entwicklungsunterstützung in zahlreichen Bereichen. Das fängt bereits während des Beitrittsprozesses an, in dem personelle, finanzielle Ressourcen sowie der Transfer von Wissen bei der Hilfe zur Umsetzung der Beitrittskapitel gewährt werden. Verwaltung, Justiz oder auch die Infrastruktur profitieren schon im Vorfeld, wenn sie auf ein EU-Niveau gehoben werden. Als Mitglied profitiert ein Staat dann vollends von den Subventions- und Fördergeldströmen der EU. Jedes Mitglied zahlt zwar in den gemeinsamen EU-Haushalt ein, profitiert aber auch von gewaltigen Rückflüssen. Den größten Posten macht hier der Agrarsubventionsposten aus. Mit 450 Mrd. Euro (im Jahr 2022 (https://www.tagesschau.de/investigativ/ndr-wdr/eu-agrarsubventionen-unternehmen-101.html) ) ist er der mit Abstand größte Haushaltsposten. Gerade agrarisch geprägte Länder profitieren davon. Daneben gibt es zahlreiche Förderprojekte und Entwicklungsprogramme, die einen enormen Entwicklungsschub leisten können. Dies betrifft nahezu alle Bereiche, von der Kultur über die Infrastruktur bis hin zu Natur- und Umweltschutzprojekten. Schließlich ist es das Ziel, die Lebensverhältnisse aller EU Bürger anzugleichen.
Für den einzelnen Bürger ein beispielloser Zugewinn an Freiheit, was die Beweglichkeit im Aufenthalt, bei Arbeit und Bildung betrifft, erst recht, wenn auch noch die Aufnahme in den Schengen raum erfolgt. Aber natürlich birgt so ein Prozess gewisse Umbrüche und Unsicherheiten, bei denen es auch immer Gewinner und Verlierer gibt, sei es der korrupte Beamte, der um eine Einnahmequelle gebracht wird oder schlimmeres, oder die lokale Zeitung, die den veränderten Verhältnissen nicht standhalten kann oder der Großbauer, der sich auf großzügige Subventionen freuen darf, hingegen der Kleinbauer an den Normen und Vorschriften verzweifelt und nicht mehr konkurrenzfähig ist, die staatlich subventionierte Glühbirnenmanufaktur, die schließen muss, da die EU keine Glühbirnen erlaubt…
In der Gesamtbilanz sollten die prognostizierten Vorteile potentieller Beitrittskandidaten überwiegen. Dies gilt umso mehr, je mehr Entwicklungspotential gegeben ist, aber der Abstand zum EU-Durchschnitt auch nicht unüberwindbar scheint. Länder, die bereits ein hohes Wohlstandsniveau haben und wirtschaftlich erfolgreich und stabil agieren und mit der EU ein gutes Verhältnis pflegen, fällen dann auch ein ganz anderes Urteil über eine mögliche EU Mitgliedschaft. Die Schweiz, Norwegen und Island sind trotz idealer EU-Kompatibilität bis dato keine Mitglieder, auch wenn es Bemühungen gab, scheiterten diese meist an Volksentscheiden. Denn neben den wirtschaftlichen Aspekten zählt auch die politische Dimension in diese Bilanz und hier vor allem die Frage der Souveränität.
Staatenbund souveräner Staaten
Die EU ist ein Staatenbund, ein Zusammenschluss einzelner souveräner Staaten. Im Laufe der Entwicklung von der EWG hin zur EG, bis zum EU Vertrag von Lissabon im Jahr 2009 (https://www.europarl.europa.eu/factsheets/de/sheet/5/vertrag-von-lissabon) ist das Konstrukt der EU gewachsen, so dass die Staaten ein immer komplexeres und intensiveres Geflecht eingehen, was zu Einschränkungen der eigenen Souveränität führt. Die Skala zwischen ungebundenem, eigenständigen Staat und Föderalstaat in einem Suprastaat à la „Vereinigte Staaten von Europa“ hat sich stetig Richtung letzterem seit Gründung verschoben.
Das heißt, ein Teil der Souveränität wird zugunsten einer Mitgliedschaft aufgegeben. Dies betrifft in erster Linie eine Reihe juristischer Fragen, Normen, Regeln und Gesetze. Das EU-Recht steht fortan über dem Nationalen, EU-Normen müssen eingehalten werden, das reicht von Ausschreibungsvorschriften über Warenqualitäten, Produktverboten bis hin zu Gewässervorschriften und Umweltauflagen – es gibt quasi keinen Bereich, der nicht mit EU-Recht abgeglichen werden muss. Desweiteren muss jegliche Entwicklung, jegliche Handlung der Regierung, seien es Gesetze, Subventionen oder Reformen im Rahmen der EU-Konformität erfolgen. Es gibt eine Reihe von Instrumenten, die die EU zur Verfügung hat, um Missachtungen zu sanktionieren. Diese reichen von verhängten Strafgeldern, Blockierungen von Geldern bis hin zu Stimmentzug. So kostete eine nicht EU konforme Maut-Reform Deutschland Milliarden, Polen und Ungarn sind seit etlichen Jahren im Konflikt mit der EU in Bezug auf ihre rechtsstaatliche Entwicklung, Griechenland wurde während einer Finanzkrise ein schmerzhaftes Sparprogramm auferlegt und diese Liste ließe sich fortführen.
Natürlich erhalten Neumitglieder auch Zugang zu den Institutionen und damit politischen Einfluss, sei es im EU Parlament, dem Rat der EU oder auch der Kommission – und aktuell gibt es noch Bereiche, bei denen Einstimmigkeit benötigt wird. Ein einzelnes Land hat mit seinem Veto also die Macht Vorhaben zu verhindern, wie zum Beispiel die Aufnahme neuer Mitglieder. Ein altes Beispiel: Frankreich hat mehrfach den Beitritt Großbritanniens mit seinem Veto verhindert. Erst 1973 wurde es EU-Mitgliedsland.
Nichtsdestotrotz schwindet aber der Einfluss eines Landes, je mehr Länder Mitglied sind und ein Neumitglied steht erst einmal 27 EU-Staaten gegenüber. Dies ist natürlich alles nicht in Stein gemeißelt und wir können davon ausgehen, dass der Lissabon Vertrag nicht die letzte EU Reform war. Gerade in Bezug auf die geplanten Erweiterungen bedarf es einiger Justierungen, schon jetzt ist das erwähnte Einstimmigkeitsprinzip bei 27 Mitgliedsstaaten kaum praktikabel. Bei derzeit erstarkenden nationalistischen Tendenzen, ist es nicht ausgeschlossen, dass den einzelnen Staaten auch wieder mehr Souveränität zugestanden wird.
Dies alles zeigt, dass so eine EU-Mitgliedschaft keine Einbahnstraße ist und warum nicht unbedingt jeder europäische Staat den Wunsch verspürt, beizutreten. Für diejenigen, deren Kandidatenstatus feststeht, überwiegen die positiven Aspekte. Wie der Prozess verläuft, ist jedoch für jeden Staat sehr individuell und hängt von der Entwicklung ab.
Es lohnt, einen Blick auf die verschiedenen Kandidaten zu werfen.
Die Balkanländer Serbien, Nordmazedonien, Montenegro, Albanien, Bosnien und Herzegowina, Kosovo
Schaut man sich die Länder auf der Karte an, bilden sie quasi eine Enklave in der Europäischen Union und sind von EU Mitgliedern sowie dem Adriatischem Meer umschlossen. Kroatien, Ungarn, Rumänien, Bulgarien sowie Griechenland grenzen an dieses Gebiet im Herzen Europas. Gemeinsam ist ihnen auch die Vergangenheit als Teil des sowjetisch dominierten Ostblocks. Bis auf Albanien waren die jetzigen Einzelstaaten sogar vereint und Teil der Jugoslawischen Republik. Was sie ebenfalls eint, ist die bewegte Vergangenheit, die sich nach dem Zusammenbruch des Ostblocks abzeichnete. Im Gegensatz zu Ländern wie Polen oder Ungarn kamen neben dem schon schwierigen Transformationsprozess an sich auch noch Unabhängigkeitskonflikte, Revolten und auch ethnische Konflikte hinzu, die sogar Kriege entfesselten.
Erinnert sei nur an den Bosnienkrieg zwischen 1992 und 1995 und den Kosovokrieg 1999. Die jetzige Staatenlandschaft ist also ein Resultat, dem auch viel Gewalt innewohnt, wo die Wunden noch relativ frisch sind. Mit Blick auf den Kosovo schwelt der Konflikt bis heute und eine internationale Friedensmission, die KFOR, sichert den brüchigen Frieden. Dies ist ein bestimmendes Merkmal dieser Region. Die vielfältigen Volksgruppen, bestehend aus Albanern, Serben, Bosniaken, Türken, Griechen, Mazedoniern, Roma und noch vielen mehr, bilden einen ethnischen Flickenteppich mit viel Konfliktpotential, auch innerhalb der Staaten – wobei sich die Lage seit den letzten großen Krisen wesentlich entspannt hat. Trotzdem kocht es ab und an auch wieder hoch, wie der Konflikt zwischen Serben und Kosovo-Albanern regelmäßig zeigt.
eine durch Gewalt, Krieg und Umbrüche traumatisierte Region
Hinzu kommt, dass ein Teil der jetzigen EU-Mitglieder auch aktive Akteure und Parteien in den Kriegen waren. Deutschland führte seinen ersten aktiven Krieg nach dem 2.Weltkrieg in EX-Jugoslawien und ist auch immer noch an der KFOR-Mission beteiligt. Diese Besonderheit wäre ein wichtiger Punkt bei der Aufnahme dieser Länder und könnte an den friedenswahrenden und versöhnenden Kern dieser Werte-Gemeinschaft anknüpfen. Dies zu vernachlässigen, könnte ungeahnten Sprengstoff enthalten. Dies wird eines der ganz Großen Themen sein, die bei der Aufnahme eine Rolle spielen. Wie können Konflikte entschärft werden, was garantiert eine friedliche, stabile Koexistenz, wie können alle Bevölkerungsgruppen partizipieren, wie können die Wunden durch die Kriege am besten geheilt werden? Am weitesten entfernt davon sind zurzeit wohl noch der Kosovo und Serbien. Das fängt schon damit an, dass das Kosovo noch nicht einmal von allen EU-Staaten als Staat anerkannt ist. Zum anderen ist der Konflikt mit Serbien im Grunde immer noch schwelend und ohne den Schutz der KFOR Mission bestände derzeit die Gefahr des Ausbruches erneuter kriegerischer Handlungen. Unter diesen Umständen ist ein Beitritt im Grunde prinzipiell ausgeschlossen, es würde einen kriegerischen Konflikt innerhalb der EU bedeuten, was strengstens vermieden werden sollte.
Mit der Aufnahme Zyperns gab es jedoch auch schon mindestens eine Ausnahme dieser Regel, da der Konflikt mit dem türkisch besetzten Teil der Insel ebenfalls nicht endgültig geklärt ist.
Auch Bosnien und Herzegowina hat seine vollständige Souveränität seit dem Ende des Bosnienkrieges 1995 noch nicht wiedererlangt. Wie im Kosovo schützt auch hier eine internationale Friedensmission vor den Spannungen zwischen den Volksgruppen. Ein Teil der Staatsgewalt wird vom sogenannten „Hohen Repräsentanten“ ausgeübt, dem Vertreter der internationalen Gemeinschaft, was ein ernsthaftes Staatlichkeits- und Demokratiedefizit darstellt.
Die Vielzahl der Bevölkerungsgruppen bringt auch eine Vielzahl unterschiedlichster Kulturen und Religionen mit sich. Neben den christlichen Variationen ist auch der Islam originär präsent vertreten. Hinzu kommt die weit verbreitete traditionelle Lebensweise, die teils auf archaischen Prinzipien beruht – erwähnt sei nur die bis heute praktizierte Blutrache in Teilen Albaniens, Clanstrukturen und ein allgemeines Modernisierungsdefizit. Wobei es hier von Region zu Region auch große Unterschiede gibt. Zwischen ländlich geprägten muslimischen Gemeinden Albaniens und dem Leben in einer Westdeutschen Großstadt dürften jedoch Welten liegen, wobei die Unterschiede zu ländlichen Regionen in Rumänien geringer ausfallen dürften. Diese Kluft in Kultur, Lebensweise und modernen Standards gilt es unbedingt zu berücksichtigen und im Rahmen des Beitrittsprozesses zu verringern. Bleiben wir noch kurz bei Albanien und einem exemplarischen Beispiel. Die Hauptstadt Tirana weist eine besonders hohe Luftverschmutzung sowie Lärmbelastung auf und überschreitet EU Grenzwerte massiv, so dass das Land sanktioniert werden würde, wäre es bereits Mitglied. Die Modernisierung des Fuhrparks, der Energiegewinnung, des Verkehrswesens und weiterer Bereiche sind notwendig, damit EU-Kompatibilität erreicht wird, allein um die Lärm- und Luftrichtwerte in Tirana einzuhalten.
Korruption und Kriminalität
Die Themen Korruption und Kriminalität spielen ebenfalls eine große Rolle. Mafiöse Strukturen haben sich in vielen Regionen der Länder etabliert. Sie gelten als Drehscheiben des internationalen Drogen- und Waffenhandels. Albanien wurde schon als das „Kolumbien Europas“ bezeichnet. Hier bedarf es, die Verflechtung in Politik und Justiz mit dem organisierten Verbrechen zu beheben. Gleichzeitig gilt es, die Vollzugsorgane bei der Polizei auf ein humanitäres, menschenrechtskonformes Niveau zu heben. Seit den Beitrittsbemühungen sind auf diesen Feldern schon Fortschritte erreicht, dennoch bleiben diese noch mit die größten Baustellen.
Wie sieht es mit der Wirtschaft aus
Wirtschaftlich gesehen befinden sich die Länder in einer Spannbreite von Knapp 5.000 US Dollar bis 10.000 US Dollar des Bruttoinlandsproduktes pro Kopf. Zum Vergleich, das ärmste EU-Land und Nachbar Bulgarien kommt immerhin auf 11.000 US Dollar BIP pro Kopf, Rumänien gar auf über 18.000 US Dollar BIP pro Kopf. Zudem gibt es regionale große Unterschiede und besonders der ländliche Raum dürfte in einigen Ländern noch weit unter den 5.000 US Dollar BIP pro Kopf liegen. Es ist also ein gewaltiges Wohlstandsgefälle, was sich hier auftut – gerade mit Blick auf die wohlhabenden EU-Mitglieder wie Deutschland mit knapp 49.000 US Dollar BIP pro Kopf.
Weitere Daten und Fakten
Von der Größe her, handelt es sich eher um kleine Nationen. Zwischen ca. 600.000 Einwohnern in Montenegro bis zum größten Staat Serbien mit über 6,9 Millionen Einwohnern bewegen sich die Zahlen meist so zwischen 2 und 3 Millionen Einwohner. Der Agrarsektor spielt eine dominante Rolle in der Wirtschaft, aber auch Bergbau und Rohstoffgewinnung zumeist für den Export sind relevant. Industrielle Produktion ist vor allem in Serbien anzutreffen, wobei die Spuren von Transformation und Krieg sich weiter auf die wirtschaftliche Entwicklung auswirken. Hier ist sicher ein großes Potential vorhanden aber auch das Risiko, dem Wettbewerb standzuhalten.
Europäische Integration voranbringen
Die Integration der Balkanstaaten in die Europäische Union macht aus vielerlei Sicht einen Sinn. Rein geografisch gesehen sind sie umschlossen von der EU. Die Länder profitieren schon jetzt von der Unterstützung durch den Beitrittsprozess und erfahren dadurch einen Modernisierungsschub und Hilfe bei der Lösung dringender Probleme. Der Aufbau eines funktionierenden Staatswesens, die Bekämpfung von Korruption und mafiösen Strukturen, Minderheitenschutz und Friedensarbeit, Umweltschutz und weitere Bereiche erfahren durch die realistische Aussicht einer EU-Mitgliedschaft eine Vehemenz und Beschleunigung. Auch als künftige EU-Mitglieder werden diese Staaten noch längere Zeit auf der „Nehmerseite“ stehen und mehr Geld aus dem EU Haushalt verbrauchen, als sie einzahlen. Deshalb ist die Frage berechtigt, was aus EU Sicht für eine Aufnahme spricht.
Da ist zum einen, die schiere Vergrößerung und Ausdehnung, ein größerer Markt, eine größere Fläche – mehr Gewicht in der Weltpolitik. Die Wirtschaft profitiert vom freien Warenverkehr und den Investitionen bei der Modernisierung. Verbesserter Umweltschutz führt zu weniger Emissionen, wovon letztlich alle profitieren, ebenso bei der Bekämpfung der organisierten Kriminalität, deren zersetzende Kraft auch innerhalb der EU wirkt. Der wesentlichste Aspekt dürfte jedoch die Befriedung und Aussöhnung ehemaliger Kriegsparteien sein. Stabilität und prosperierender Wohlstand in einem ehemals blutigen Konfliktherd im Herzen Europas, das ist das Versprechen, was wohl am schwersten wiegt. Zudem sind die Länder recht überschaubar in ihrer Größe und würden vom Gewicht her das Gesamtgefüge der EU nicht radikal verändern.
Dass dieser Weg nicht einfach wird und großer Anstrengungen bedarf, sollte klar sein, viele Steine sind noch wegzuräumen. Die Balkanländer sind auch kein Block, sondern es gilt ein eigenständiger Beitrittsprozess für jedes Land an sich. Serbien und Montenegro haben sogar schon die ersten Kapitel der Beitrittsverhandlungen abgeschlossen, Kosovo hingegen ringt noch um seine internationale Anerkennung. Der Wille und die Bereitschaft, diese Anstrengungen auf sich zu nehmen, sind innerhalb der EU sicherlich auch unterschiedlich ausgeprägt. Dennoch bietet die mittel- und langfristige Aussicht der Integration des Balkans in die EU gewisse Vorteile. Mit der Anerkennung als Beitrittskandidat oder potentiellen Beitrittskandidat dieser Staaten wird dieser Weg auch beschritten. Vorschnelle Ergebnisse dürften nicht zu erwarten sein, Geduld ist gefragt – ein langer Atem und viel Anstrengung.
Türkei und Ukraine
Ein wenig anders als bei den Balkanstaaten verhält es sich bei den beiden Ländern Türkei und Ukraine.
Türkei
Die Türkei ist das Land mit der längsten Beitrittskandidaten-Geschichte. Erste Bemühungen gehen noch auf die EWG Zeiten in den 60er Jahren zurück. Seit 2005 wurden dann offiziell die Beitrittsverhandlungen begonnen und erste Kapitel eröffnet, wovon sogar eins abgeschlossen ist.
Seit einigen Jahren liegt der Prozess jedoch auf Eis und es ist nicht absehbar, dass sich in naher Zukunft daran etwas ändert. Von Anfang an ist ein möglicher EU Beitritt der Türkei umstritten. Da ist die geografische Lage am Rande Europas, die kulturellen Unterschiede einer muslimisch geprägten Gesellschaft, das enorme Wohlstandsgefälle, vor allem in der ländlichen Provinz, die politische Instabilität, geprägt durch Militärputsche, die Menschenrechtssituation und der Umgang mit Minderheiten wie den Kurden, Demokratie- und Rechtsstaatlichkeitsdefizite – um nur die wichtigsten Punkte zu nennen.
Dennoch gelang es der Türkei in den 2000er Jahren, sich der EU anzunähern und sogar die Beitrittsverhandlungen zu eröffnen. Der damals frisch ins Präsidialamt gelangte Erdogan betrieb einen Annährungskurs gegenüber der EU und sorgte sogar für eine Demokratisierung der Türkei, gewährte den Kurden Minderheitenrechte und sogar die Presse- und Meinungsfreiheit erblühte anfangs. Wirtschaftlich erreichte die Türkei hohe Wachstumsraten. Unter diesen Bedingungen erschien eine künftige EU-Mitgliedschaft durchaus realistisch, auch wenn es noch gewaltige Anstrengungen bedurft hätte und die kulturellen Unterschiede, die enorme Größe noch einiges von der EU abverlangt hätte. So ist die Aufnahme eines Landes dieser Größe nicht ohne Einfluss auf das Gefüge und das Konstrukt der EU an sich.
Da der anfangs eingeschlagene Kurs Erdogans sich aber später ins nahezu Gegenteil verkehrte, kamen die Verhandlungen zum Stillstand. Die Entwicklung zu einem autoritären Sicherheitsstaat, in dem die demokratischen Rechte stark eingeschränkt sind, die Rechtsstaatlichkeit nahezu aufgehoben ist und es zur Verfolgung der politischen Gegner und Minderheiten kommt, die Presse – und Meinungsfreiheit kaum noch existent ist und zudem das Militär kriegerisch in Kurden- und Grenzgebieten eingesetzt wird – hat die Türkei weiter von einem EU-Beitritt entfernt, als es zu Beginn der Verhandlungen war. Folgen dieser Politik sind nicht zuletzt der wirtschaftliche Niedergang und Hyperinflation. Ohne eine 180 Grad Wende in dieser Entwicklung ist nicht mit der Wiederaufnahme der Verhandlungen zu rechnen. Dass dies unter der autokratischen Herrschaft Erdogans und seines Rechtsnationalen Parteienbündnis geschieht, ist wohl ausgeschlossen.
Die Aussicht und das Angebot auf eine EU-Mitgliedschaft konnte es nicht verhindern, dass sich die Türkei in diese Richtung entwickelte. Konsequent wäre es, die Kandidatur zu streichen und für beendet zu erklären. Auf der anderen Seite besteht mit der Beibehaltung des Kandidatenstatus ein Anreiz für eine Wiederannährung, ein kleiner Schweif am Horizont sozusagen – es lässt den Dialog nicht gänzlich fallen. Zudem ist die EU bei Fragen der Sicherheit und der Migration auch gerne Partner der Türkei. Erinnert sei an das Migrationsabkommen zwischen der EU und der Türkei, was wesentlich zum Stopp der Migrationswelle 2015/16 Richtung EU führte.
Es ist die Frage, welchen Wert messe ich dem Kandidatenstatus bei – delegitimiere ich nicht die ernsthaften und unter großen Anstrengungen vollbrachten Beitrittsbemühungen anderer Staaten?
Ukraine
Eine Frage, die sich auch bei einem der jüngsten Kandidaten aufdrängt- der Ukraine.
Allein die Betrachtung des Offensichtlichsten, ein Land, das sich mitten im Krieg befindet, dessen Ausgang völlig offen ist, einen offiziellen Kandidatenstatus zu verleihen, ist schon mehr als gewagt. Man kann die Intention dahinter verstehen, es als Symbol der Hoffnung und der Unterstützung sehen, aber gleichzeitig untergräbt dies die Seriosität regulärer Beitrittsprozesse.
Wenn jetzt auch noch gefordert wird, mit einem beschleunigten Prozess Beitrittsverhandlungen zu beginnen, ist der Verlust an Glaubwürdigkeit kaum zu ermessen und gleicht einer Demontage eigener Werte und Strukturen. Es kann also nur einen regulären Beitrittsprozess der Ukraine geben für die Zeit nach dem Krieg. Dafür müssen zuerst die Kopenhagener Kriterien eingehalten werden. Die Nachkriegsukraine muss in einen demokratischen Rechtsstaat zurückgeführt werden, zu der auch eine juristische Aufarbeitung des Krieges gehört. Die jetzige Kriegsordnung ist nicht in Einklang mit demokratischen Grundsätzen und Menschenrechten. Der Wiederaufbau müsste genutzt werden, um ein stabiles System zu etablieren und es vor Korruption zu schützen. Bereits vor dem Krieg zählte die Ukraine zu den korruptesten Staaten weltweit, Platz 144 von 180 Staaten 2013. Das Wohlstandsgefälle zwischen EU und der Ukraine war vor dem Krieg ebenfalls ein gewaltiges Hindernis für eine künftige Mitgliedschaft, dies dürfte umso enormer nach dem Ende des Krieges ausfallen. Der Wiederaufbau dürfte eine gigantische Herausforderung werden – von der Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft ganz zu schweigen. Sollte die Ukraine Mitglied sein, würde dies auch unter den derzeitigen Bedingungen bedeuten, dass gigantische Agrarsubventionen in die Ukraine fließen, die bisherigen Empfänger starke Einbußen hätten. Die landwirtschaftliche Nutzfläche der Ukraine ist alleine so groß wie ein Drittel der landwirtschaftlichen Fläche der EU. Wiederaufbau, Agrarsubventionen und Modernisierung würden den Haushalt der EU unter den jetzigen Bedingungen kollabieren lassen. Die Probleme einer frisch traumatisierten Nachkriegsgesellschaft sind noch ganz andere Herausforderungen.
Fakt ist, die Ukraine wird Hilfe benötigen – ihr da zur Seite zu stehen und beim Wiederaufbau zu helfen, auch bereitzustehen, die richtigen Weichen zu stellen – in Richtung Demokratie, Menschenrechte, Rechtssystem, Korruptionsbekämpfung – steht außer Frage. Dies sind die Voraussetzungen für einen ernstzunehmenden Weg Richtung Beitrittsverhandlungen.
Hier muss sich die EU-Kommission ehrlich machen und keine realitätsfernen Versprechungen geben, schon allein aus Respekt gegenüber langjährig ernsthaft bemühten Staaten wie Nordmazedonien oder Albanien. Ansonsten verliert der Kandidatenstatus an Wert und Glaubhaftigkeit, was sich nicht zuletzt auch auf die Legitimität und das Ansehen der Europäischen Unionsgemeinschaft auswirkt.
Grenzenloses Wachstum vs. Grenzen des Wachstums
2013 erfolgte mit Kroatien die bisher letzte Erweiterung der Europäischen Union. Der Austritt Großbritanniens zeigt, dass es auch Widerspruch gibt und eine Mitgliedschaft so viel innenpolitische Kritik erzeugt, dass dieses schärfste Instrument, trotz gewaltiger möglicher Nachteile, Anwendung findet. Ein Signal, dass bei den verbliebenen Mitgliedsstaaten Alarm auslösen und Anlass sein sollte, die innere Konstituierung des Gebildes, der EU, selbstkritisch auf Herz und Nieren zu prüfen.
Je stabiler, fester und sicherer die Staatengemeinschaft ist, je mehr sich die einzelnen Länder wohl darin fühlen, die einzelnen Bürger das Gefühl einer Gemeinschaft entwickeln und sich darin auch wiederfinden, desto eher steht eine bedachte Erweiterung auf gesunden Beinen.
Denn jede Erweiterung und jedes noch so kleine Neumitglied hat auch einen Rückkoppelungseffekt auf das Ganze. Die aktuellen Kandidaten sind zudem Länder, denen stark unter die Arme gegriffen werden muss und in die Ressourcen fließen, die woanders ebenfalls gebraucht werden. Ohne Strukturreformen kommt das bisherige System ebenfalls an seine Grenzen, so müssen einer Erweiterung auch stets Anpassungen des Betriebssystems der EU folgen.
Es sollte sich auch die Frage gestellt werden, welche Vision steht hinter der EU – welche Grenzen setzt sich die EU? Ist es Ziel einmal bis an die Grenzen Chinas zu reichen? Zielen wir eher auf einen losen Staatenverbund zur Förderung der Wirtschaft und des Freihandels oder geht es doch eher in die Richtung der Vereinigten Staaten von Europa? Ein geschäftiger Alltag im Krisenmodus auf Expansionskurs hat es leicht, solch grundsätzliche Fragen außer Acht zu lassen. Doch ohne sich solche zu stellen und zu beantworten, kann aus einem Schlingern auch ein Crash werden. Natürlich ist die Beitrittspolitik von geopolitischen Interessen geleitet. Es geht um Einflusssphären und Machtinteressen, ideologischer Unterstützung, Hoffnung und Perspektiven.
Die Bemühungen mit der Ukraine offizielle Beitrittsverhandlungen aufnehmen zu wollen, lassen nicht zuletzt Rückschlüsse auf die innere Verfasstheit der EU. Damit gemeint ist folgendes: Die Ukraine befindet sich in einer instabilen, chaotischen Lage mitten im Krieg mit ungewissem Ausgang. Bereits die Ausgangslage vor dem Überfall Russlands sprach nicht für baldige Aufnahme von Beitrittsverhandlungen. Dies nun doch geballt zu forcieren, stellt die geopolitischen Machtinteressen in den Vordergrund. Gleichzeitig kann es aber auch nicht mehr als Symbolpolitik sein und untergräbt somit die Legitimität der Institution. Mit diesem Kurs der unbedingten Erweiterung, vor allem in Bezug auf instabile Regionen, besteht die Gefahr, dass dieses Wachstum innere Widersprüche und Probleme kaschiert. Liegt der Fokus auf Wachstum, kann sich das System dadurch nähren und am Leben erhalten – dies funktioniert bis zu einer gewissen Grenze – aber birgt enormen Sprengstoff. Die eigene Fragilität durch die Integration noch viel fragilerer Systeme hält das Gesamtsystem zwar irgendwie in Schwung, das Risiko eines Totalschadens steigt jedoch. Es gibt zahlreiche Baustellen in der Union, die nicht vernachlässigt werden dürfen. Der Austritt Großbritanniens ist bei weitem noch nicht aufgearbeitet, EU kritische oder gar ablehnende Strömungen nehmen in den einzelnen Staaten auf dramatische Weise zu, Stichwort Rechtsrutsch, die Strahlkraft der EU verblasst in der Bevölkerung, wichtige Reformen werden verschleppt, eine weitere Demokratisierung steckt fest, die Wohlstandsgefälle zwischen den Mitgliedern sind nach wie vor immens, einige Mitglieder weichen von demokratischen Grundsätzen der EU ab, wichtige Fragen unserer Zeit bleiben unbeantwortet – wichtige Werte wie die der Menschenrechte scheinen entwertet mit Blick auf das Mittelmeer.. die Liste ließe sich noch weit fortführen.
Wichtig ist also, dass die Expansions- und Aufnahmepolitik nicht einzeln dastehen sollte. Einem äußeren Wachstum muss unbedingt auch ein inneres Wachstum beiseite stehen. Dies zu vernachlässigen wird sich früher oder später bitter rächen. Fragen, wo steht die EU, was möchte die EU, wie schaffen wir es alle Bürger mitzunehmen, was sind unsere Lösungsvorschläge für die dringenden Fragen unserer Zeit – was tun gegen Fehlentwicklungen, Kritik und Fehleranalyse betreiben – nur so bleibt das großartige Projekt der Europäischen Union gesund und meistert auch die Aufnahme neuer Mitglieder in diesen Staatenkreis.
Natürlich bedeutet die Ausnahme von Verhandlungen keine Garantie für eine baldige Aufnahme. Wie die Türkei zeigt, können diese etliche Jahre(-zehnte) dauern und auch ganz gestoppt werden. Staaten erhalten durch die Kandidatenperspektive zudem mehr Motivation beim Angehen ihrer Probleme, was in der Regel eine Verbesserung der Lebenssituation der Menschen in diesen Ländern führt. Dabei aktive Unterstützung durch Fachkräfte und finanzielle Mittel seitens der EU zu stellen, ist eine zu begrüßende Entwicklungshilfe. Wichtig ist das richtige Maß und auch Ehrlichkeit, politischer Wille das eine, die Anerkennung der realen Verhältnisse das andere – beides gehört zusammen gedacht.
Zur Ehrlichkeit gehört, klar zu sagen, dass ein Land im Krieg nur symbolisch den Kandidatenstatus erhält, ein Land wie Kosovo erst international anerkannt sein sollte, Bosnien und Herzegowina erst wieder souverän und über Georgien und Moldau wurde hier noch gar nicht gesprochen. Teile Georgiens sind russisch besetzt, gleichzeitig gibt es eine starke Pro Europäische Protestbewegung.
Die EU-Erweiterung ist ein ständiger Prozess, der wie eingangs erwähnt, auch zur DNA der Union gehört – und daran ist per se nichts auszusetzen. Wie sich dieser Beitrittsprozess in den kommenden Jahren und Jahrzehnten gestaltet, wird sich zeigen, genauso, wie sich die EU als Ganzes entwickelt. Dass die EU als emanzipatorisches Menschheitsprojekt bestehen bleibt, liegt nicht zuletzt an unseren Entscheidungen und unserem Kampf dafür.
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