Arved Schönberger
Nach der EU Parlamentswahl – EU vor großen Herausforderungen
Die letzten Wahllokale schlossen am Sonntag, den 9. Juni um 23 Uhr in Italien. 4 Tage lang von Donnerstag bis Sonntag durften die rund 360 Millionen wahlberechtigten Bürger der 27 EU Staaten ihre Stimme für die Zusammensetzung des EU Parlaments abgeben – in Deutschland erstmals auch die 16 und 17 jährigen. Für 5 Jahre sind damit die Kräfteverhältnisse im EU-Parlament neu bestimmt. Es ist die weltweit einzige direkt gewählte supranationale Institution und auch die einzige EU Institution, die überhaupt direkt demokratisch bestimmt wird. Aus der Neuaufstellung des Parlaments ergeben sich weiter auch die Besetzungen der Spitzenposten, allen voran die der Kommission, des Hohen Vertreters der EU für Außen- und Sicherheitspolitik und des/der Parlamentspräsident/-in. Auch die Fraktionen stellen sich jetzt neu auf. Vor allem bei den Rechtsaußenparteien jenseits der konservativen EVP Fraktion dürfte es in diesen Tagen und Wochen zu Neugruppierungen kommen. Koalitionen und Mehrheiten müssen für die anschließenden Postenbestimmungen gefunden werden. Die Zeiten, in denen eine große Koalition zwischen EVP und den Sozialdemokraten genug Abgeordnete vereinte, um quasi „durchregieren“ zu können, sind lange vorbei. Welche Rolle hierbei die Rechtsaußen Parteien in Zukunft spielen, dürfte die entscheidende Frage sein.
Ausgangslage vor der Europawahl und Befürchtungen
Die Situation vor den Europawahlen 2024 unterscheidet sich von der 2019 wesentlich. Die vergangene Legislaturperiode ist von Krisen geprägt. Corona und die damit einhergehende Wirtschaftskrise, die zunehmenden Folgen des Klimawandels mit Überschwemmungen, Dürren und Extremwetter und vor allem der Ukrainekrieg dominierte das politische Geschehen. Hinzu kommt eine permanente Präsenz der Migrationsproblematik, die zudem noch durch die anderen Krisen befeuert wird. Der auch schon vor 2019 zu beobachtende Rechtstrend bei politischen Wahlen wurde durch diese Krisen anscheinend noch einmal bestärkt. Auf nationaler Ebene sind seitdem in einer ganzen Reihe von EU-Staaten rechtsextreme und rechtspopulistische Parteien an Regierungen beteiligt worden oder stehen gar an der Spitze dieser.
Einzig in Polen konnte die autoritäre Rechtsregierung der PiS Partei knapp abgelöst werden. Dem gegenüber stehen etliche EU Staaten mit Rechts-Rechtsextremen Koalitionen, die sich seit 2019 gebildet haben. Dazu zählen Schwergewichte des Kerneuropas wie Italien, die Niederlande, Finnland, Portugal oder auch Schweden.
In Ländern, in denen es (noch) keine Regierungsbeteiligungen extrem Rechter Parteien gibt, haben diese jedoch in der Regel an Stärke gewonnen. Deutschland bildet da keine Ausnahme, in einigen Regionen liegt die AfD bereits vor allen anderen Parteien. Die Befürchtungen im Vorfeld lagen dann auch zum großen Teil darauf, dass der Rechte Rand jenseits der EVP großen Zuwachs erfährt. Bisher kommen die rechten Fraktionen EKR und ID zusammen mit der fraktionslosen ungarischen FiDESZ Partei und der AfD auf 139 von 705 Abgeordneten. Hinzu kommen noch einige rechtsextreme Fraktionslose. Ihr bisheriger Einfluss auf die Politik im Europaparlament blieb jedoch gering und äußerte sich eher indirekt in der allgemeinen politischen Diskursverschiebung nach rechts. Vor allem gab es Anknüpfungspunkte mit der EVP (und anderen), wenn es darum ging Umwelt- und Klimapolitik aufzuweichen sowie den Migrationskurs zu verschärfen. Überschneidungen gibt es ebenfalls bei Militarisierungs- und Aufrüstungsbestrebungen – hier reicht die Koalition weit über die Mitte hinaus und erfasst sowohl Liberale, Grüne und Sozialdemokraten. So dass es im Grunde nicht auf die Stimmen der extrem Rechten ankam.
Rechtsruck im EU-Parlament: Gefährdung von Grundwerten und Reformbereitschaft
Da sich die Mehrheitsverhältnisse absehbar zugunsten der radikal Rechten verschieben werden, könnten diese als Mehrheitsbeschaffer jedoch an Einfluss gewinnen. Am deutlichsten zeigte sich dies, als Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen es im Vorfeld nicht ausschloss, sich mit Stimmen dieses Lagers wiederwählen zu lassen. Seit längerem pflegt die Kommissionspräsidentin ein enges Verhältnis zur italienischen Regierungschefin Giorgia Meloni, die einer postfaschistischen Bewegung vorsteht. Gerade bei der Asyl – und Umweltpolitik lässt sich eine zunehmende Schnittmenge zwischen EVP und der Rechtsextremen beobachten, was durchaus auch weiter in die Mitte strahlt.
Die großen Themen und Problemlagen der vergangenen Legislaturperiode werden auch die der neuen sein. Progressive Lösungsansätze drohen es dabei schwieriger zu haben, wenn sich der Diskurs weiter nach rechts verschiebt. Die jüngsten Lockerungen der Agrar-Umweltauflagen unter Federführung der EVP geben da einen Vorgeschmack. Grundwerte der EU im Bereich der Menschenrechte drohen weiter zu erodieren, Rechtstaatlichkeits- und Entdemokratisierungstendenzen könnten noch weniger sanktioniert werden, soziale und kulturelle Errungenschaften in Frage gestellt werden – Stichwort LGBTQI Rechte, Minderheitsrechte, Schwangerschaftsabbrüche, Kunst- und Pressefreiheit, Medienvielfalt etc.. Auch die Weiterentwicklung der EU, die Bereitschaft für Reformen nimmt unter dem Druck von Rechts eine andere Form an, ein weit verbreiteter Euroskeptismus unter diesen Parteien könnte zudem wie Sand im Getriebe wirken. Alles in Allem eher pessimistische Aussichten vor den Wahlen – machte das Europäische Parlament auch in der scheidenden Legislaturperiode keine gute Figur, wenn es um Reformwillen, angemessenen Klima- und Umweltschutz, der Migrationsfrage sowie des Erwehrens gegenüber antidemokratischen Tendenzen ging. Auch wenn es zeitweise, gerade zu Beginn, auch positive Ansätze wie den „Green New Deal“ gab oder auch das Lieferkettengesetz.
Rechte Normalität?
Der Fokus auf Wirtschaft, Kapitalinteressen und Aufrüstung dürfte sich jedoch nicht wesentlich ändern. Trotz nationaler Fokussierung, dürfte die erstarkte Rechte kaum den Militarisierungsbestrebungen der EU von EVP und Co. im Wege stehen. Eine weitere Normalisierung und Diskursverschiebung rechter Ideologie könnte die kommende Legislaturperiode prägen – und damit letztendlich das gesamte EU Projekt gefährden und zusätzlich auf die nationale Ebene zurückstrahlen.
Soweit die Ausgangslage vor der Wahl. Schauen wir nun auf die Ergebnisse, wie sieht das neue Parlament der Europäischen Union mit nun 720 Abgeordneten aus. Treffen die Prognosen zu? Wer machte das Rennen um die 96 deutschen Sitze?
Ergebnisse
50,7 Prozent aller Wahlberechtigten EU Bürger stimmten 2019 bei den Parlamentswahlen ab. 2024 ist die Wahlbeteiligung mit 51,01 Prozent nur marginal höher ausgefallen. Am niedrigsten lag sie mit 21,3 Prozent in Kroatien, am höchsten in Belgien mit 89,2 Prozent und in Luxemburg mit 82,3 Prozent. In diesen Ländern herrscht jedoch auch Wahlpflicht. Einfluss auf die Wahlbeteiligungen haben auch einige parallel stattfindende Wahlen. So wurden in Bulgarien gleichzeitig Parlamentswahlen durchgeführt, in Belgien ebenfalls sowie die Regionalparlamente neu bestimmt. In Deutschland fanden unter anderem in Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Sachsen, Thüringen und 4 weiteren Bundesländern auch Kommunalwahlen statt. Mit 64,8 Prozent aller Wahlberechtigten gingen in Deutschland seit der Wiedervereinigung noch nie so viele Menschen zu einer Wahl des Europaparlaments.
Blick auf die Fraktionen
Kurz vorweg, bevor es etwas detaillierter und länderspezifischer wird: Der anhaltende Rechtsruck hat sich weiter verstätigt. Die extremen Rechten haben an Stimmen und damit an Parlamentssitzen hinzugewonnen und das merklich, wenn auch weniger stark als in einigen Voraussagen vermutet. Zählt man alle Abgeordneten rechts der EVP zusammen, also derjenigen, die sich in den Fraktionen ID und EKR zusammengeschlossen haben plus den (noch) beiden Fraktionslosen rechten Gruppen, zu denen die AfD nach dem Rauswurf aus der ID Fraktion gehört sowie der ungarischen FiDESZ Partei, so kommen sie auf mindestens 157 Sitze. Hinzu kommen noch einige weitere, die bisher unter den Fraktionslosen und Sonstigen firmieren. Damit sind diese Kräfte annähernd so stark wie die größte Fraktion des Parlaments, der konservativen gemäßigt rechten EVP Fraktion mit voraussichtlich 190 Sitzen. Damit hat der rechte Rand zwar an Gewicht gewonnen, jedoch nicht ganz so viel wie vorher befürchtet. Dennoch stellt das radikal rechte Lager zusammengenommen die zweitstärkste Kraft im europäischen Parlament dar, zählt man alle Sonstigen und Fraktionslosen Rechten im Detail dazu. Allerdings wird dieses Gewicht begrenzt durch die Aufteilung in unterschiedliche Fraktionen und auch den Zerwürfnissen untereinander, so dass sie zwar Zahlenmäßig an die EVP heranreichen, jedoch nicht mit gleichwertig gebündelter Kraft agieren können/werden.
Sitzverteilung im Europäischen Parlament
Wie eben schon durchgeklungen, konnte das konservativ gemäßigt rechte Lager, zu dem auch die deutsche CDU/CSU gehört, die EVP, ihren Status als größte Fraktion verteidigen und legte sogar auf 190 von 720 Sitzen leicht zu. Ein Punkt, der der Wiederwahl der Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen zugutekommt.
Stabil und nur mit leichten Verlusten geht die sozialdemokratische S&D Fraktion, zu der auch die deutsche SPD gehört, mit 137 Plätzen in die neue Legislaturperiode.
Starke Verluste mussten die Grünen und die liberale Renew (RE) Fraktion verkraften. RE fällt von vormals 102 Sitzen auf 79, die Grünen von 71 auf 52. Der Verlust fällt zudem ein wenig schwerer aus, prozentual gesehen, da die Gesamtzahl an Parlamentssitzen von 705 auf 720 gestiegen ist.
Ebenfalls recht stabil und mit leichten Verlusten stehen die Linken, links der Sozialdemokratie da. Sie schrumpfen von 37 auf 36 Abgeordnetensitze.
Fraktionslose und Sonstige kommen zusammen auf immerhin 100 Abgeordnete. Hier finden sich zahlreiche Kleinparteien wieder, die zum Teil erstmals im Parlament vertreten sind, aber auch größere Gruppen wie die AfD und die ungarische FiDESZ Partei. Der Anteil der Rechtsausleger dürfte in dieser Gruppe recht hoch sein. Aber auch radikale Tierschützer oder Linke sind darunter, ebenso Martin Sonneborn von der Partei die Partei, die es mit immerhin 2 Sitzen zum dritten Mal ins Parlament geschafft hat. Im Verlauf der Konstituierung des Parlaments werden sich einige dieser Parlamentarier den etablierten Fraktionen anschließen. Nicht auszuschließen ist auch eine Neuformation der Rechtsfraktionen zwischen ID und EKR oder gar der Bildung einer 3. rechten Fraktion.
Mehrheitsverhältnisse im Parlament nach der Europawahl
Für die Mehrheitsverhältnisse im Parlament bedeuten diese Ergebnisse, dass der EVP die zentrale Rolle zukommt. Eine Mehrheit links der EVP, selbst unter Einbezug der Liberalen ist nicht möglich. Auch eine sogenannte große Koalition zwischen EVP und Sozialdemokraten reicht nicht für eine Mehrheit. So steigt die Bedeutung der Liberalen und der Grünen – aber auch rechte Stimmen könnten zur Mehrheitsbeschaffung ihr Potential erweitern.
EVP, SD und die liberale Renew haben zusammen mehr als die Hälfte der Parlamentssitze. Diese Konstellation verhalf der Kommissionspräsidentin 2019 ins Amt. Allerdings knapp, trotz komfortabler Mehrheit, denn anders als in Deutschland beispielsweise, gibt es einen weniger strengen Fraktionszwang und diese Fraktionen sind zudem äußerst heterogen, allein schon wegen ihrer Multinationalität. Diese Mehrheit ist nun weiter geschrumpft.
So wird die anstehende Abstimmung über die Kommission einen Vorgeschmack über die künftigen Mehrheitskooperationen liefern. Da der Rechtsruck weniger stark ausgeprägt ist, als befürchtet, ist von der Leyen nicht unbedingt auf die Stimmen der Postfaschisten angewiesen. Mit der Einbeziehung der Grünen, wäre ein handlungsfähiges großes Demokratiebündnis mit stabiler Mehrheit die denkbarste Option – sozusagen die ganz große (bürgerliche-) Koalition.
Weitere Möglichkeiten
Als Gegenentwurf käme aber auch eine große Koalition der rechten Kräfte und der Liberalen, also EVP, ID, EKR und Renew auf eine knappe Mehrheit, mit Abgeordneten der Fraktionslosen und Sonstigen sogar auf eine mehr als knappe Mehrheit. Allerdings ist dies wohl praktisch keine Option, zeigt jedoch deutlich, dass die Mehrheit im Parlament rechts der Mitte liegt. Dementsprechend wird sich dies auch auf die künftige Politik der Europäischen Union auswirken. Themen wie Umwelt- und Klimaschutz, Menschen- und Bürgerrechte, Militarisierungspolitik und dergleichen werden von dieser rechten Dominanz zumindest stärker beeinflusst als zuvor.
Doch wie sind diese Ergebnisse zustande gekommen, welche Besonderheiten gab es in den 27 EU Staaten?
Blick auf die EU Staaten
Dass der Zuwachs des ultrarechten Lagers geringer ausfiel als vermutet, lag daran, dass in einigen Ländern der rechte Vormarsch weniger stark oder sogar rückläufig war.
In Polen konnte die PiS Partei nicht an die Erfolge von 2019 anknüpfen. Das liberal bürgerliche Lager verteidigte den polnischen Kurswechsel, auch wenn noch weiter rechts stehende Kräfte vom PiS Verlust profitierten. Selbst im autoritären Ungarn musste Orbans FiDESZ Partei Verluste hinnehmen und eine gewisse Wechselstimmung war im Land zu spüren, auch wenn die Rechten und rechtsextremen Kräfte weiterhin sehr stark sind.
Selbst im autoritären Ungarn musste Orbans FiDESZ Partei Verluste hinnehmen und eine gewisse Wechselstimmung war im Land zu spüren, auch wenn die Rechten und rechtsextremen Kräfte weiterhin sehr stark sind.
In Schweden und Finnland gab es die größten Überraschungen, wurden dort doch erstmals Regierungskoalitionen mit Rechtsaußen-Parteien eingegangen, verloren diese bei den Europawahlen deutlich. Hier punktete das linke Lager sowie entgegen dem EU-Trend auch die Grünen, gleiches gilt für Dänemark.
Trotz dessen gewannen die Rechtsaußen-Parteien erheblich dazu. Gerade die Bevölkerungsreichsten Länder wie Frankreich, Deutschland und Italien haben daran Anteil. Am dramatischsten verlief der Wahlabend wohl in Frankreich. Hier wurde der Rassemblement National von Marine Le Pen mit über 31Prozent stärkste Kraft, hinzu kommen weitere Prozente noch rechterer Kräfte. Damit erhielt der RN doppelt so viele Stimmen wie die liberal-konservative Wählervereinigung von Präsident Macron. Dieser sah sich noch in der Wahlnacht genötigt, die Nationalversammlung aufzulösen und Parlamentswahlen für den 30.6.2024 auszurufen. Damit steht Frankreich vor einem rechten Kipppunkt, dessen Folgen auch für die gesamte EU gravierend sein könnten. Gilt Frankreich doch zusammen mit Deutschland als „Maschinenraum“ der EU.
Italien hat diesen Kipppunkt schon hinter sich und wird von einer Postfaschistin regiert. Das Lager um Giorgia Meloni und ihrer Fratelli d‘Italia behauptete ihre Stärke und sendet dementsprechend viele Abgeordnete an den rechten Rand des EU Parlaments. Das im Vorfeld betriebene hofieren Melonis durch Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und weiteren hochrangigen Politikern schmälerte zumindest diesen Erfolg nicht.
In Deutschland konnte die AfD, die selbst aus der rechtesten aller Fraktionen, der ID Fraktion, aufgrund ihrer Radikalität flog, ihren Erfolg ausbauen. Sie steigerte ihr gesamtdeutsches Ergebnis von 11 Prozent bei der Wahl 2019 auf fast 16 Prozent bei der jetzigen Wahl und wird damit zweitstärkste Kraft hinter der CDU/CSU, die es auf 30 Prozent schaffte. 15 der insgesamt 96 deutschen Sitze gehen damit an die AfD. In den Ost-Bundesländern, ausgenommen Berlin, wurde die AfD sogar stärkste Kraft mit Ergebnissen um die 30 Prozent, was sich auch bei den Kommunalwahlen im Osten niederschlug. So stehen weite Teile der Bundesrepublik ebenfalls einem Kipppunkt ziemlich nahe. Einen Achtungserfolg erzielte auch das neu gegründete Bündnis Sahra Wagenknecht, welches bundesweit aus dem Stand 6,2 Prozent erzielte, im Osten noch wesentlich mehr. Damit entsendet das BSW 6 Abgeordnete ins Europaparlament, einen mehr als die FDP. Ob und zu welcher Fraktion sich das BSW angliedert, ist derzeit noch unklar, ID und EKR werden es wohl nicht sein. 12 Sitze gehen auch an diverse Kleinstparteien wie Volt, Freie Wähler oder die Partei, von denen keine dem extrem rechten Lager zuzuordnen ist.
Noch ein Blick auf die Jungwähler, die erstmals schon mit 16 an die Wahlurne durften: Bei den unter 24 jährigen lag die CDU/CSU fast gleichauf mit der AfD. Der Anteil an kleineren Parteien lag hier besonders hoch. Generell schnitten die sogenannten „Sonstigen“ sehr gut ab, was sich auch an den 12 Sitzen jenseits der etablierten Parteien zeigt. Dies liegt auch daran, dass Deutschland eines der wenigen Länder ist, bei denen es bei der EU-Parlamentswahl keine Prozenthürde gibt. Es lässt zudem auf eine allgemeine Unzufriedenheit mit den etablierten Parteien schließen, von der auch die AfD profitiert. Eindeutiger Verlierer ist dann auch die SPD mit dem schlechtesten Ergebnis aller Zeiten und ebenso verloren die Grünen massiv an Stimmen. Um ihr Überleben muss die Linke kämpfen. Sie rutschte auf das Niveau einer Kleinstpartei und erhält mit 2,7 Prozent fast genauso viele Stimmen wie die Volt Partei.
Im Herzen der EU – Belgien – fanden neben der EU Wahl auch Parlamentswahlen und Regionalwahlen statt und auch hier dominierten die rechten Kräfte. Der rechtsextreme Vlaams Belang wurde mit 14,5 Prozent stärkste Kraft und war zudem nicht die einzige Rechtspartei mit starkem Stimmenanteil. Auf nationaler Ebene bedeutet dies auch das Ende des bisherigen sozial-liberalen Regierungsbündnisses unter Alexander de Croo. Belgien entsendet zwar nur 22 von 720 Abgeordneten, doch stellt das Land mit seinen EU Institutionen in Brüssel quasi das Herz dieser Union bereit.
In den Niederlanden wurde Geert Wilders Regierungs- und Rechtsaußen-Partei Parti voor de Vrijheid mit 17,7 Prozent zweitstärkste Kraft hinter einer Grün-Linken Vereinigung mit 21,6 Prozent. Damit liegen die Rechtspopulisten wieder hinter ihren Wahlerfolgen bei der letzten Parlamentswahl, wo sie stärkste Kraft wurden.
Einen klaren Sieg der Rechtsextremen gab es auch in Österreich. Hier holte die FPÖ mit 25,4 Prozent das stärkste Ergebnis aller Parteien und gewann damit drei Sitze dazu. Die ÖVP wird mit fünf Sitzen im Parlament verteten sein, ebenso wie die SPÖ. Einen Sitz verloren haben die Grünen und können nun zwei Abgeordnete entsenden.
Diese kleine Auswahl soll genügen. Sie zeigt, dass es zwar einen allgemeinen Rechtstrend gibt, dieser aber auch nicht unumkehrbar ist und auch nicht generell.
Dies liegt auch daran, dass es zwar eine Europawahl gab, diese jedoch sehr nationalstaatlich geprägt war. Nationale Themen stehen oft im Fokus der Wähler, nationale Wahlsysteme bestimmen die Durchführung, nationale Parteien treten an. So gibt es unterschiedliche Prozenthürden, die es nicht etablierten Parteien nahezu unmöglich machen Sitze zu erlangen, Unterschiede beim Wahlkampf, im Bewusstsein – was zu Wahlbeteiligungen zwischen 25 und 85 Prozent führt. Die europäische Idee, um die es ja geht, hat es unter diesen Bedingungen schwer, zu erblühen. Die Wahlen zum EU Parlament gleichen eher addierten nationalen Abstimmungen. Gesamteuropäische Parteien und Themen, ein einheitliches Wahlsystem und die Vermittlung von Basiswissen über die Union wären Mittel, hier nachzubessern. (Neben all den anderen Reformen, die nötig sind, um auf längere Sicht dieses einzigartige Projekt am Leben zu erhalten.)
Alle Ergebnisse zur Europawahl 2024 finden Sie unter https://www.results.elections.europa.eu/de/nationale-ergebnisse-uberblick/
Wie geht es weiter...
Konstituierung Parlament und Fraktionen
Nach der Wahl wird sich das Parlament vom 16. bis 19. Juli konstituieren. Neue Abgeordnete werden neue Büros beziehen, alte eventuell umziehen. Die Fraktionen konstituieren sich ebenfalls und bestimmen ihre Vorsitzenden. Es ist auch nicht ausgeschlossen, dass sich die Fraktionslandschaft ändert und es zu Umbenennungen, Neugründungen und Neuordnungen kommt. Gerade der rechte Rand dürfte in Bewegung sein. Für viele noch fraktionslose Gruppen oder Einzelpersonen wird sich die Frage stellen, ob sie sich einer Fraktion anschließen.
Ausschüsse und Parlamentspräsidentschaft
Auch die Ausschüsse müssen besetzt werden sowie deren Vorsitzende, ebenso die Parlamentspräsidentschaft – hier hat die SPD Spitzenkandidatin Katarina Barley schon Ansprüche gemeldet.
Wahl der EU Kommission im Herbst
Am wichtigsten wird die Wahl der Kommission. Ursula von der Leyen strebt eine zweite Amtszeit als Kommissionspräsidentin an. Das demokratische Lager hat stabile Mehrheiten, jedoch nehmen ihr das Liebäugeln mit den Stimmen der Meloni Partei gewählt zu werden, viele noch übel. Hier könnte es spannend werden, inwieweit Konservative und progressive Kräfte zueinander finden, oder ob die Brandmauer gegen rechts schon bei der Kommissionswahl gerissen wird. Ein Scheitern von der Leyens ist ebenfalls nicht ausgeschlossen. Dies wird sich im September zeigen.
Neben der oder dem Präsidenten der Kommission werden auch die neuen Kommissare ernannt werden. Sie werden in ihren Ressorts die politischen Schwerpunktthemen der EU in den kommenden fünf Jahren vertreten.
Ein Fazit zur Europawahl 2024
Generell wird der Rechtsruck im Parlament nicht ohne Folgen bleiben, wenn auch nicht offensichtlich direkt, so doch mindestens indirekt, wie hier schon mehrfach erwähnt. Da sich die Rechtsverschiebung in den einzelnen EU Staaten augenscheinlich fortsetzen wird, hat dies auch auf den Rat der EU Auswirkungen, wo es ebenfalls schwieriger werden könnte als bisher, wenn nicht nur ein Orban mit Stöcken in den Speichen stochert, sondern auch noch eine Le Pen, ein Wilders und so weiter.
Ein so weiter hat im Grunde zu dieser Situation geführt. Es bleibt zu hoffen, dass das Parlament und die EU den Ernst der Lage auch ernst nimmt und der problematischen Entwicklung entgegensteuert. Das trifft natürlich auch für alle EU Staaten zu. Hier wäre die Unterstützung durch die EU gefragt, eine Stärkung der Zivilgesellschaft und Bildungsoffensiven wären wünschenswert. Andererseits sollten auch die Nationalstaaten mehr dafür tun, die europäische Idee in den Köpfen und Herzen der Menschen zu verankern. Auch dürfen die Augen nicht vor Defiziten im EU-System verschlossen werden. Selbstreflektion, Analyse und Reformbereitschaft sind die Schlagworte, deren sich die Europäische Union unbedingt annehmen sollte.
Ansonsten erleben wir in fünf Jahren die Fortsetzung dieser Entwicklung, was schlimmstenfalls zum Rückfall in Zeiten des 19. und 20. Jahrhunderts führt. Eine lösungsorientierte, dem Menschen und der Umwelt zugewandte Politik (auch global) wäre für diese großen Aufgaben natürlich hilfreich.
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