Arved Schönberger
Brexit – Der Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union
Etwas bis dato kaum Vorstellbares wurde am 1.Februar 2017 im britischen Unterhaus Realität, als mit einer Mehrheit von 498 zu 114 Stimmen der Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union beschlossen wurde, beziehungsweise die Regierung dazu aufgefordert wurde, diesen Schritt einzuleiten. Die Entwicklung der EU war bis dahin eine Erfolgsgeschichte und kannte nur die eine Richtung, die des Wachstums und der Erweiterung.
Erstmals hat sich ein Mitgliedsstaat für den Ausstieg aus diesem Staatenbündnis entschieden und will die eng verzahnte Union verlassen. Dies kam einem Erdbeben gleich und rüttelt an den Grundfesten der Staatengemeinschaft – auch wenn dies in dieser Dramatik aus diversen Gründen nie so drastisch ausgestellt wurde – ist die Bedeutung dieses Vorgangs fundamental. Handelte es sich bei Großbritannien doch um eines der Kernmitglieder, was Größe, Bedeutung und Wirtschaftskraft angeht – vergleichbar mit Frankreich, Italien und Deutschland – einen „Big Player“ der Union.
Wie konnte es so weit kommen? Was waren die Gründe und wie lief der Austritt ab, welche Lehren können daraus gezogen werden?
Mitglied oder nicht
So wie bei fast allen Dingen auf dieser Welt, gibt es auch bei der Frage nach einer EU Mitgliedschaft zahlreiche Facetten, die jeweils positiv wie negativ bewertet werden können, natürlich auch abhängig vom jeweiligen politischen Standort. Im Grunde findet ein Tausch statt, bestimmte Dinge werden zugunsten einer Aufnahme in das Bündnis abgegeben, wie Teile der Souveränität beispielsweise, Geldzahlungen, Verpflichtungen… – um im Gegenzug dann von EU Mechanismen zu profitieren, wie Agrarsubventionen oder Teil des Binnenmarktes zu sein. Die Beantwortung der Frage, ob es sich für einen Staat lohnt, eine Mitgliedschaft anzustreben, hängt zudem von der eigenen Konstitution ab. Starke, große, wohlhabende Staaten, denen es bisher auch alleine gut ging, haben weniger ein Interesse sich selbst zu beschneiden, als kleinere, wirtschaftlich weniger entwickelte Staaten, die vom Schutz und der Förderung durch die EU stark profitieren würden. So kam es in der Vergangenheit auch schon mehrfach zur Ablehnung einer EU-Mitgliedschaft bei Volksbefragungen. 2001 stimmten die Schweizer wiederholt bei einer Volksinitiative gegen die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen. Auch die Norweger stimmten 1994 gegen einen EU Beitritt und zum zweiten Mal nach 1972 und 2015 zog Island sein Beitrittsgesuch zurück.
Es ist also bei weitem nicht so, dass eine EU-Mitgliedschaft das „non plus ultra“ und die Erfüllung aller (Staaten-)Träume darstellen. So gibt es auch innerhalb der EU Staaten euroskeptische Strömungen, von denen die radikalsten einen Austritt anstreben. Diese Bewegungen formieren unter ähnlichen Schlagworten wie das des erfolgreichen britischen Pendants „Brexit“: „Nexit“ bei den Niederlanden, „Danexit“ bei den Dänen oder „Dexit“ für den Austritt Deutschlands aus der EU. Neu sind diese Bewegungen nicht, oftmals handelt es sich auch bloß um politische Randgruppenphänomene, doch mit den politischen Verschiebungen, Krisen und dem Erstarken des Populismus gelingt es immer häufiger, dass solche politischen Randpositionen teilweise in den Mainstream geraten. Regierungen unter Beteiligung euroskeptischer Lager sind spätestens seit dem Erstarken des Rechtspopulismus in weiten Teilen Europas keine Ausnahme mehr. Mehrheiten für eben solche Austrittsvorhaben sind seit dem Brexit Referendum 2016 keine abstrakte Überlegung, sondern ein realistisches Szenario. Zumal, wenn man auf die Beitrittsabstimmungen schaut, waren dies auch meist recht knappe Entscheidungen. So stimmten 1994 nur knapp 56 Prozent der Finnen einem Beitritt zu, bei einem konsultativen Votum 1994 in Schweden, waren es ebenfalls nur 52,3 Prozent der Wahlberechtigten, die sich für die EU aussprachen. Es ist also davon auszugehen, dass in der allgemeinen EU Bevölkerung ein gewisses EU- skeptisches Grundpotential enthalten ist, dass unter bestimmten Umständen sogar eine Mehrheit hinter sich vereinen kann.
Betrachten wir den Präzedenzfall Großbritanniens etwas detaillierter.
Britisches Selbstverständnis
Bei Großbritannien handelt es sich um eine alte und stolze föderale Nation, zu deren Geschichte als „Great Empire“ die Unterjochung weiter Teile der Welt einstweilen gehört. Bis heute stehen Reste dieses gewaltigen Kolonialreiches unter britischem Herrschaftseinfluss. Das Königshaus und das politische System der parlamentarischen Monarchie haben eine jahrhundertealte Tradition, die bis heute fortbesteht. Als Wiege der industriellen Revolution und des Kapitalismus prägte Großbritannien entscheidend das Gesicht unserer modernen Welt. Das Verhältnis zu Kontinentaleuropa war indes stets ambivalent, definierte man sich selbst doch als Inselstaat und nicht ganz zu Europa zugehörig. Als Siegermacht aus dem 2. Weltkrieg hervorgegangen und auf die eigene militärische Stärke bedacht, samt Atomarsenal, mangelte es nicht an Selbstvertrauen, einen vorderen Platz unter den Staaten dieser Welt auch weiterhin anzustreben. Wirtschaftlich zählte man sich zu den führenden Industrienationen.
Diese Voraussetzungen gilt es im Hinterkopf zu behalten, als das Vereinigte Königreich allmählich den Beitritt zur Vorläuferorganisation der EU, der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) erwog. Zwar sprach sich Großbritannien nach dem 2.Weltkrieg für ein starkes, integratives Europa aus, sah aber die Rolle mehr bei Frankreich und Deutschland, so dass es bei der Gründung der EWG zunächst außen vor blieb. Dafür beteiligten sich die Briten bei der Gründung eines konkurrierenden europäischen Freihandelsabkommen, der EFTA, welches aber nach dem Beitritt Großbritanniens 1973 zur EWG stark an Bedeutung verlor. Die historischen Spannungen zwischen Frankreich und dem Königreich waren mit verantwortlich für den späten Beitritt. Denn bereits 1961 und nochmals 1967 beantragte Großbritannien eine EWG Mitgliedschaft, scheiterte jedoch beides Mal am Votum des französischen Präsidenten Charles de Gaulle. Erst mit de Gaulles Nachfolger Georges Pompidou ließ der Widerstand Frankreichs gegenüber einer EWG Mitgliedschaft Großbritanniens nach.
Am 1.Januar 1973 traten die Briten zusammen mit den Dänen und Iren in die Europäische Gemeinschaft (EG, vormals EWG) ein, die damit auf 9 Mitgliedsstaaten anwuchs. In einer Volksabstimmung 1975 sprachen sich von den 64% an der Abstimmung teilgenommenen Wahlberechtigten 67% für einen Beitritt aus. Der ganze Beitrittsprozess fand unter einer konservativen Regierung statt. Kritik am EG Beitritt kam zu dieser Zeit eher aus dem linken Labour Lager. Im Vordergrund für den Beitritt standen wirtschaftliche Interessen. Seit der Gründung der EWG war zu beobachten, dass sich die EWG Staaten besser entwickelten, als es in Großbritannien der Fall war. Dies betraf die allgemeine Wirtschaftskraft, das Wohlstandsniveau und selbst den Bildungsgrad der Bevölkerung – Großbritannien sah die Gefahr, den Anschluss zu verlieren und war dafür bereit, einen Teil seiner Souveränität und Eigenständigkeit abzugeben.
Großbritannien in der EU – Mitglied mit Ecken und Kanten
Die 70er und 80er Jahre
Die Zeit des Beitritts waren zugleich auch Zeiten des Umbruchs und der Krisen. Teile der alten Industrie und des Bergbaus befanden sich im Umbruch oder in Abwicklung, Massenentlassungen und Arbeitslosigkeit bedrohten das soziale Gefüge und die konservative Regierung, später unter der „eisernen Lady“ Margret Thatcher – scheute nicht vor sozialen Härten.
Da kamen die Vorteile einer EG Mitgliedschaft gerade recht. Subventionen für die Landwirtschaft und die Möglichkeiten freier Märkte revitalisierten das System. Die Europäische Gemeinschaft hingegen gewann ein Schwergewicht hinzu, sei es in wirtschaftlicher Hinsicht oder auch den beträchtlichen Zuwachs an EU Bürgern. Dies wirkte sich natürlich ebenso auf das Machtgefüge innerhalb der Gemeinschaft aus. Großbritannien war den bisherigen Schwergewichten Frankreich, Deutschland und Italien ebenbürtig. Zusammen mit Irland und Dänemark wuchs die Mitgliederzahl von 6 auf 9, was Konsensentscheidungen schwieriger machte und neue Mehrheitsverhältnisse in den Gremien ermöglichte.
Einen Unterschied, der das künftige Agieren der Gemeinschaft nicht unbedingt einfacher machte, war das Verständnis über die Ausrichtung der zukünftigen EU. Waren Deutschland, Frankreich und Italien auch durch die historischen Umstände eher an einer eng verzahnten, integrativen EU interessiert, Richtung „Vereinigte Staaten von Europa“, stand das Vereinigte Königreich für das Konzept eines Bundes starker Nationalstaaten, die möglichst viel ihrer Souveränität behalten und sich hauptsächlich auf Kooperationen im ökonomischen Bereich konzentrieren.
Daraus folgte, dass Großbritannien oft eine Sonderrolle einnahm und Sonderrechte für sich einforderte. So gelang es Margret Thatcher beispielsweise, ein Wahlversprechen einzulösen und die als zu hoch empfundenen Zahlungen an die EG erheblich zu reduzieren. Als später der Vertrag von Maastricht den Grundstein zur heutigen EU legte, traten größere Differenzen in der politischen Landschaft über das zukünftige Verhältnis gegenüber der EU zu Tage.
Die 90er Jahre
Die in den Verträgen vorgesehene Währungsunion und die Einführung einer gemeinsamen Währung sah das Königreich kritisch und erreichte, wie auch Dänemark, Sonderregelungen für das britische Pfund mit einer Opt-out Regelung, also einer Ausstiegsklausel. Ebenfalls keine Unterzeichnung durch die Briten erfuhr das Sozialprotokoll des Maastrichter Vertrages, welches Regelungen zum Arbeitsrecht und Mindestnormen enthielt. Trotz dieser Zugeständnisse schaffte es die konservative Regierung nur unter Androhung des Rücktritts des damaligen Premiers John Major, die Verträge von Maastricht durchs Parlament zu bringen. Unter der Bezeichnung „Maastricht Rebellen“ formierte sich Anfang der 1990er Jahre erstmals eine ernstzunehmende Widerstandsbewegung, die die EU Mitgliedschaft Großbritanniens offen in Frage stellte. Auftrieb erhielten die EU Skeptiker zusätzlich durch eine schwere Finanzkrise 1992. Nachdem das britische Pfund 1990 nach langem Zögern dem Europäischen Währungssystem EWS beigetreten ist, verlor es nach massiven Spekulationen dagegen am 16.September 1992, dem sogenannten „schwarzen Mittwoch“, massiv an Wert. Daraufhin folgten eine große Finanz- und Wirtschaftskrise mit hohen Arbeitslosenzahlen und dem anschließenden Austritt Großbritanniens aus dem EWS. Die Regierung der Konservativen unter John Major erlitt einen großen Vertrauensverlust bezüglich ihrer ökonomischen Kompetenz. Ebenso schadete es dem Ansehen der Europäischen Union ernsthaft und goss Wasser auf die Mühlen der EU Gegner. Zur Einführung des Euros auf der Insel sollte es dann auch nie kommen.
Nachdem die Labour Partei 1997 unter Tony Blair die Regierung übernahm, wehte ein etwas pro europäischerer Wind durch die Downingstreet. Die Wirtschaft profitierte vom gemeinsamen Binnenmarkt und prosperierte.
Die 2000er Jahre
Mit der EU Osterweiterung 2004 öffneten sich potentiell auch die Arbeitsmärkte gen Osten. Während Deutschland oder auch Frankreich sich durch Übergangsregelungen vor Arbeitsmigration schützten, öffnete sich Großbritannien für diese Arbeitskräfte, welche die wachsende Wirtschaft auch dringend benötigte. Damit stieg der Anteil ausländischer Einwohner, vor allem aus Polen und Litauen, massiv. Als es 2007 zur nächsten Finanz- und Wirtschaftskrise kam, stieg die Arbeitslosenquote erneut und die Stimmung drehte sich. Die EU Freizügigkeit und „nicht-Briten“ gerieten zunehmend in den Fokus und wurden als Sündenböcke gebrandmarkt. Erneut ließ die Europäische Idee Federn.
Der Nachfolger Tony Blairs, Gordon Brown, unterzeichnete 2007 den Vertrag von Lissabon, der der EU eine neue Grundlage gab. Dort ist im Artikel 50 erstmals der Austritt eines Landes geregelt.
Der lange Abschied von Europa
Auch wenn Großbritannien während seiner Mitgliedschaft als verlässlicher Partner und bedeutender Teil der Union galt, so bewahrte man sich wohl seit Beginn eine eigene Sicht auf die Bindung zu dieser. Ohne die Möglichkeit austreten zu können, hätten sich die Briten wohl von vornherein nicht auf einen Beitritt eingelassen und während all der Jahre in der Union, schwang diese Option einmal mehr -einmal weniger deutlich am politischen Himmel umher. Eine gewisse EU Skepsis gehörte zur DNA der britischen Bevölkerung, mehr noch als dies in anderen Mitgliedsstaaten der Fall wäre. Erstmals traten zu Beginn der 90er Jahre EU-Skeptiker und Austrittsbefürworter ins Scheinwerferlicht der Tagespolitik. Die bereits erwähnten „Maastricht Rebellen“ traten Parteiübergreifend auf und brachten den Abschluss der Maastricht Verträge in Bedrängnis. Die anschließende Finanz- und Wirtschaftskrise ab September 1992 brachte die Stimmung weiter gegen die EU auf. Die UK Independent Party, kurz UKIP, gründete sich 1991. Eines der Hauptgründungsziele dieser populistischen Rechtspartei war der Austritt Großbritanniens aus der EU – ein Ziel, das nicht zuletzt durch den Einsatz dieser Bewegung am Ende auch erreicht wurde. Das gleiche Ziel verfolgte die 1994 vom Milliardär James Goldsmith gegründete Referendum Party, weder der Gründer, noch die Party an sich konnte den Austritt allerdings miterleben. Nach Goldsmiths ableben 1997, löste sich nahezu zeitgleich auch die Referendum Party auf. Die UKIP hingegen existiert bis heute und war unter ihrem damaligen Vorsitzenden Nigel Farage einer der entscheidenden Treiber des Austrittsprozesses. Beim ersten Wahlauftritt 1994 zur Europawahl erreichte die UKIP gerade mal ein Prozent. 10 Jahre später waren es dann schon 16,1% und damit 12 von 78 britischen Abgeordneten fürs Europäische Parlament. Nochmals 10 Jahre später und quasi auf dem Höhepunkt der Austrittsdebatte wurde die UKIP mit knapp 28 Prozent der Stimmen stärkste Kraft und schickte 24 von 73 britischen Abgeordneten nach Brüssel.
Krisen und der Anstieg der Europa-Skeptiker
Der Aufstieg der Europaskeptiker ist eng mit den Krisen verbunden. Je krisenhafter die Lage, desto mehr erlangen populistische Kräfte an Zugkraft. Nachdem die Wirtschafts- und Finanzkrise von 1992 langsam überwunden wurde und die Wirtschaft an Fahrt gewann, wurden die Konservativen Torys von der Labourpartei unter Tony Blair 1997 abgelöst. Mit dem neoliberalen „New Deal“ wurde ein ähnliches Programm verfolgt, wie es später die SPD in Deutschland unter der Überschrift „Agenda 21“ mit den Hartz-Reformen tat. Die Arbeitslosigkeit sank und die Wirtschaft prosperierte. Unter diesen Voraussetzungen und der pro-europäischen Ausrichtung der Labour Regierung, waren die Euroskeptiker keine Bedrohung und Großbritannien ein integraler Bestandteil der Union.
Nach der großen EU Erweiterung 2004 mit der Aufnahme von Polen, Estland, Lettland, Litauen, Malta, Ungarn, Zypern, Slowakai, Slowenien und Tschechien verzichtete das Königreich im Gegensatz zu anderen Ländern wie Deutschland, welches zu dieser Zeit noch unter einer hohen Arbeitslosenquote litt, auf Einschränkungen der Freizügigkeit und der Arbeitsrechte. Es kam zu einem regelrechten Boom, vor allem polnischer und litauischer Arbeitskräfte, im ehemaligen Empire. So stieg allein die Zahl der auf der Insel lebenden Polen von 100.000 im Jahr 1998 auf 600.000 im Jahr 2008. 2016 arbeiteten insgesamt 2,1 Millionen Menschen aus anderen EU Ländern in Großbritannien. Dieser nie zuvor gekannte Zustrom auf die Insel, plus das allgemeine Europäische Flüchtlingsdebakel bleibt nicht ohne Folgen und wirkte sich auf die Stimmung im Lande aus. Ein solcher Zuzug erhöht den Druck auf die Wohnungssituation, die Sozialsysteme, stellt Lohnkonkurrenz dar und schürt xenophobe Tendenzen. Dies umso mehr, sobald die Wirtschaft in einen Krisenmodus verfällt. Als die große Finanz- und Wirtschaftskrise 2007 Fahrt aufnahm, die Arbeitslosenzahlen stiegen – waren die ausländischen Arbeitskräfte schnell als Sündenböcke ausgemacht und ein gefundenes Fressen für die Propaganda der Austrittspropheten von UKIP und ähnlichen Akteuren. „Das freizügige, liberale Europa, was an der großen Konkurrenz am jetzt heiß umkämpften Arbeitsmarkt schuld ist, was Unsummen an Staatsgeldern verschlingt, um andere Mitglieder vor dem Bankrott zu bewahren..“- die antieuropäische Stimmung gewann, flankiert von immer raffinierteren und skrupelloseren Propagandainstrumenten, immer mehr an Lautstärke. Die UKIP war nicht mehr kleinzuhalten und setzte die traditionelle Parteienlandschaft unter Druck.
Aufstieg der UKIP
Das färbte nicht zuletzt auch auf die etablierten Parteien ab, wo der interne Flügel der EU Skeptiker an Macht gewann. Besonders die Konservativen färbten sich in einen gemäßigt liberal euroskeptischen Farbton. Ein Ausrufezeichen waren die Europawahlen 2014, bei der die UKIP mit rund 28 Prozent der Stimmen als stärkste Kraft hervorging. Um die Stimmung im Land aufzugreifen und sich eine Wiederwahl zu sichern, versprach der seit 2010 im Amt befindliche konservative Premier David Cameron, sollten die Torys die Wahlen zum Unterhaus 2015 gewinnen, werde er ein Referendum zum Verbleib in der Europäischen Union initiieren.
Vom Referendum zum Austritt
Seit 2010 regierte die liberal-konservative Koalition unter David Cameron. Der EU- skeptische Block innerhalb der Konservativen Partei wuchs beständig, von außen kam der Druck durch die UKIP hinzu, flankiert durch populistische Kampagnen mächtiger Kapitaleigner. Offene EU Grenzen, die Rolle innerhalb der EU, der empfundene schwindende Einfluss und die mangelnde Souveränität, ausufernde Bürokratie, Krisen – die Kritik an der eigenen Mitgliedschaft nährte sich beständig.
Aber nicht nur dies, auch in den Grenzen des eigenen Königreichs gab es eine ernsthafte Separatisten Bewegung für die Abspaltung Schottlands. In dieser Situation schien es Premier Cameron vorteilhaft, mit dem Versprechen auf Zulassung der Referenden sowohl über den Verbleib Schottlands im Empire, als auch über den Austritt Großbritanniens aus der EU für die kommende Unterhauswahl 2015 auf Stimmenfang zu gehen.
Am 23. Januar 2013 war es dann so weit, David Cameron kündigte an, für den Fall der Wiederwahl 2015 eine Volksabstimmung über die EU Mitgliedschaft abzuhalten. Der Erfolg von UKIP bei den Europawahlen 2014 übte gewaltigen Druck aus, den die Konservativen durch die Übernahme der Kernforderung der Populisten in den eigenen Wahlerfolg ummünzen wollten. Das schottische Unabhängigkeits-Referendum 2014 scheiterte knapp, was zur Stärkung der Konservativen beitrug. Mit dem Versprechen, über den Verbleib Großbritanniens in der Europäischen Union das Volk zu befragen und dem Sieg in Schottland, erlangten die konservativen Tories unter Cameron bei der Unterhauswahl 2015 die absolute Mehrheit. Im Dezember 2015 wurde anschließend das Gesetz über ein EU-Referendum verabschiedet.
Gleichzeitig versuchte die Regierung, in einen Dialog mit der EU zu treten und Reformen im Sinne Großbritanniens zu erwirken. Wichtigste Punkte hierbei waren die Sicherheit und die Stärkung des Pfunds gegenüber dem Euro. Auch gegenüber der empfundenen ausufernden Regulierungswut und Bürokratisierung sah man Handlungsbedarf, ebenso bei der zunehmenden Integration und dem Verlust von mehr und mehr Souveränität – der wichtigste Punkt war jedoch das Streben nach mehr Kontrolle bei der Migration, vor allem der Binnenmigration innerhalb der EU. Über die Reformbemühungen wurde auf einem EU Gipfeltreffen vom 18. und 19. Februar 2016 abschließend beraten. In zentralen Forderungen gab es sogar Erfolge für die Briten. So wurde bei der Einwanderungsfrage ein Kompromiss gefunden, dass es Staaten ermöglicht über die Ausrufung eines „Einwanderungsnotstandes“ die Zuwanderung zu begrenzen. Im Nachhinein wissen wir, dass diese Reformen und Kompromisse letzten Endes nicht ausreichten, um den Brexit abzuwenden.
Sommer 2016
Einen Tag nach dem EU Gipfel, dem 20.Februar 2016, legte die Regierung Cameron den Termin für das Brexit-Referendum auf den 23. Juni 2016 fest. Ein denkwürdiges Datum, fand doch zu diesem Zeitpunkt die Fußball-Europameisterschaft in Frankreich statt.
Neben einer beispiellosen Kampagne der Euro Gegner von der UKIP und rechtspopulistischen Vereinigungen, die die sozialen Medien überschwemmten, Propaganda, Fake News und Hysterisierung inklusive, waren vor allem auch die Brexiteers in den Reihen der Konservativen entscheidend. Bestes Beispiel hierfür, der spätere Premierminister Boris Johnson und damalige Bürgermeister Londons. Zunächst unterstützte er den Verbleib in der EU, schwenkte dann aber um 180 Grad, schloss sich der Brexit-Kampagne an und fuhr mit einem Kampagnenbus umher, auf dem die Falschbehauptung gedruckt stand, „Großbritannien zahle jede Woche 350 Millionen Pfund an die EU“ – obwohl die Beträge in Wahrheit weitaus geringer waren. Der dominierende Medienkonzern von Rupert Murdoch, zu dem die auflagenstarken Zeitungen und Boulevardblätter Times und The Sun gehören, schoss ebenfalls aus vollen Rohren in die gleiche Richtung.
Die EU Befürworter hatten es gegenüber der Stimmung im Land und den massiven und mit viel Geld ausgestatteten Kampagnen der Gegner nicht leicht. Sie wurden vom Populismus, Überspitzungen und auch gezielten Desinformationen und Fake News überrannt und mussten sich am Ende geschlagen geben. Trotz des Entgegenhaltens der EU Befürworter, stimmten am 23. Juni 2016 knapp 52 Prozent der Wähler für den Austritt, bei einer Wahlbeteiligung von 72,2 Prozent.
Cameron - May - Johnson
Damit wurde erstmals in der Geschichte der Europäischen Union ein Austrittsverfahren in Gang gesetzt und dies bei einem der bedeutendsten Kernländer der EU. Einen Tag nach dem Referendum kündigte Cameron seinen Rücktritt an und die konservative Politikerin Theresa May übernimmt kurz darauf die Amtsgeschäfte. Sie ernennt den Brexit Befürworter David Davis zum Minister für den Austritt aus der Europäischen Union. Am 1. Februar 2017 ermächtigte das Unterhaus die Regierung per Gesetz zum Einreichen eines Austrittsgesuches bei der EU. Den offiziellen Austrittsantrag nach Paragraf 50 des Vertrages von Lissabon, stellte die britische Regierung am 29. März 2017. Bis zum 29. März 2019 sollten sich EU und Großbritannien auf die Austrittsmodalitäten einigen. Neuland für alle beteiligten und ein kaum zu überblickender Wust an Verflechtungen, die über Jahrzehnte gewachsen sind, galt es nun aufzudröseln und rückabzuwickeln. Kaum ein Lebensbereich, der nicht in irgendeiner Weise mit der Union in wechselseitiger Beziehung steht. Für die britische Politik begannen stürmische Zeiten und ein zähes Ringen zwischen Regierung, Parlament und den EU Gremien. Der Posten des Ministers für den Austritt wechselte in der Folge mehrfach und auch Theresa May trat nach turbulenten Brexit-Zeiten mit Unterhausneuwahlen und einigen missglückten Parlamentsabstimmungen zurück und räumte das Feld für Boris Johnson. Das mühsam ausgehandelte Austrittsabkommen scheiterte mehrfach im Unterhaus. Um einen Austritt ohne Abkommen abzuwenden, wurde das Austrittsdatum mehrfach verschoben. Strittige Punkte waren die Warenverkehrsmodalitäten, Rechte der EU Bürger in Britannien, Grenzfragen, insbesondere zwischen Nordirland und Irland sowie Fischereirechte. Erhebliche Auswirkungen kamen auch auf den Agrarsektor zu, der ohne die EU Subventionen kaum lebensfähig ist.
Fast vier Jahre dauert der Austritt
Nach langem zähen Ringen und dramatisch zugespitzten Debatten, Abstimmungen und Zeitkorridoren, dem Abwenden eines erneuten Referendums und etlichen Finten im politischen Geschäft – nimmt am 20. Dezember 2019 das Unterhaus die endgültige Gesetzesvorlage zum Austritt aus der Union mit 353 zu 243 Stimmen an, das Oberhaus gibt am 22. Januar seine Zustimmung. Am 24. Januar unterschreibt Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und Charles Michel als Präsident des Europäischen Rates die Austrittsurkunde, ebenso Boris Johnson in London. Der 31.Januar 2020 sollte der letzte Tag für Großbritannien in der EU sein. Der Austritt ist vollzogen.
Allerdings ist die Abnabelung damit noch längst nicht vollständig vollzogen. Übergangsfristen und die Aushandlung neuer Kooperationsverträge zwischen den jetzt bilateralen Partnern EU und Großbritannien stehen lange Zeit weiter im Fokus des Austrittsministeriums. Auch 4 Jahre danach sind noch einige Übergangsregelungen, hauptsächlich bezüglich des Warenverkehrs, in Kraft. Ein endgültiger Abschluss des Austrittsprozesses steht jedoch kurz bevor.
Folgen des Austritts
Eins kurz vorneweg, weder die EU noch Großbritannien sind im Chaos versunken, noch sind die Versprechungen der Brexiteers in Erfüllung gegangen. Für eine abschließende Beurteilung dürfte es allerdings auch ein wenig verfrüht sein.
Was bis zum jetzigen Zeitpunkt (Juli 2024) beobachtet werden kann, zeigt, dass es erwartungsgemäß Großbritannien stärker beeinflusste, als umgekehrt die EU. Ist doch die EU der größte Handelspartner der Briten, andersherum ist Britannien zwar ein wichtiger Wirtschaftspartner aber in einem ganz anderen Verhältnis. Der Euro blieb relativ stabil im Gegensatz zum britischen Pfund, was doch arg an Wert seit der Brexitankündigung verlor. So ist auch die hohe Inflation eines der Hauptprobleme im Königreich.
Kurz nach dem Brexit, als es galt sämtliche Zollverordnungen und Ein- und Ausfuhrbestimmungen neu zu ordnen, kam es zu einem kurzfristigen Einbruch der Im- und Exporte zwischen der EU und Großbritannien, die sich aber mittlerweile auf das Vor-Brexit Niveau normalisiert haben. So gab es teilweise Engpässe bei der Lebensmittelversorgung und leere Regale in den Supermärkten der Insel, gerade bei frischem Obst und Gemüse, welches zu großen Teilen aus Spanien oder anderen EU Ländern kommt. Steigende Preise und eine bis heute hohe Inflation belasten vor allem die ärmeren Schichten. Wohlstandsverlust betrifft aber nahezu alle Bevölkerungsgruppen, allein schon durch die Inflation, die zu Spitzenzeiten 11,1 Prozent (Oktober 2022) betrug. Generell verkomplizierte sich die Ein- und Ausfuhr von Waren zur EU, was zusätzlich zu Teuerungen führt und den Absatz britischer Waren erschwert.
Besonders leidet auch der Kultursektor. Künstler, die auf Auftritte im Ausland angewiesen sind, stehen nun vor kaum zu stemmenden Hürden und sind existenziell bedroht. Umgekehrt wird es ebenso schwierig für Bands oder Theatergruppen vom Festland, in Großbritannien zu touren.
In der Landwirtschaft fehlen die üppigen EU Subventionen. 4 Jahre nach dem Brexit macht sich ein Höfesterben bemerkbar und viele Landwirte sind in ihrer Existenz bedroht. Sollte die britische Regierung hier nicht gegensteuern, wird Schlimmes befürchtet. Zudem leidet die Landwirtschaft unter der Abschaffung der Freizügigkeit, was es erheblich erschwert Saisonarbeitskräfte zu gewinnen. Generell wirkt sich der Austritt stark auf den Arbeitsmarkt aus, da der Zugang auf diesen erschwert wird. Dies gilt besonders für gering qualifizierte Arbeitnehmer. In jedem Fall wird nun ein Arbeitsvisum benötigt. Für Urlaubsaufenthalte bis zu 6 Monate benötigen EU Bürger jedoch kein extra Visum. 2019 lebten rund 3,4 Millionen EU Bürger im Königreich, nach dem Brexit sank diese Zahl auf rund 3 Millionen im Jahr 2021 – allein die zahlenmäßig stärkste Fraktion der Polen sank von rund 900.000 auf ca. 600.00. Auch für die im EU Ausland lebenden Briten galten neue Regeln. Um erworbene Ansprüche bei Sozialleistungen, Arbeitsrechte oder den Aufenthalt sichern zu können, beantragten viele von ihnen eine doppelte Staatsangehörigkeit, soweit möglich.
Ebenfalls leidet der Wissenschaftsbetrieb. Studentische Austauschprogramme wie das Erasmusprogramm greifen nicht mehr, Gastprofessur-Aufenthalte und Kooperationen unter den Hochschulen werden zumindest erschwert. Studieren in Großbritannien verteuert sich für EU Bürger erheblich.
Leere Versprechen für die Briten
Ein großes Versprechen von UKIP und Co. war die Wiedererlangung von Fischereirechten. Den britischen Fischern wurde die Befreiung von den Fesseln der EU Regelungen mit strengen Fangquoten und Umweltauflagen in Aussicht gestellt, so dass viele von ihnen für den Austritt stimmten. Eingelöst haben sich diese Versprechen bisher nicht. Von einer Verbesserung der Situation der Fischer kann keine Rede sein, im Gegenteil.
Wesentlicher Bestandteil der Brexit Kampagne war zudem das Thema Migration und das Spiel mit Überfremdungsängsten. Sowohl die irreguläre Einwanderung aus Nicht-EU Ländern, als auch die hohe Anzahl von EU Bürgern im Arbeitsmarkt wurde genutzt, um Stimmung für den Austritt zu machen. „Wenn das Vereinigte Königreich wieder unabhängig ist, kann es auch wieder selber über die Migration bestimmen“ – so die Losung. Hier hat der Austritt wirklich zu Veränderungen geführt, wie bereits bei den Arbeitskräften aus EU Ländern beschrieben. Bei Asylsuchenden und allen anderen Migranten ist das Land nicht mehr an EU Regelungen gebunden, was zu einer wesentlich restriktiveren Flüchtlingspolitik führt. Aktuell ist die konservative Regierung bestrebt, das Recht auf Asyl weitestgehend abzuschaffen und das Erreichen des britischen Festlandes für ungewollte Menschen auf legalem Weg zu verunmöglichen. Menschen, die nicht regulär eingereist sind, sollen nach den Plänen der Regierung ins weit entfernte Ruanda deportiert und eine Einreise auf Dauer soll verwehrt werden. Diese Pläne wurden bisher gerichtlich unterbunden, die Regierung setzt jedoch alles daran, ihr Vorhaben umzusetzen. Das Parlament verabschiedete am 23.4.2024 erneut das Ruanda-Asylpaket. Selbst der Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Menschenrechtskonvention wird deswegen vom Premier Rishi Sunak erwogen.
Gewinner und Verlierer
Auf diesem Gebiet hat Großbritannien jedenfalls an Beinfreiheit gewonnen. Unter zivilisatorischen Gesichtspunkten stellt diese Entwicklung allerdings einen Rückschritt dar. Wobei dazu gesagt werden muss, dass auch die EU in eine ähnliche Richtung tendiert und nicht vor solchen Entwicklungen gefeit ist.
Eine große Befürchtung betraf den Zusammenbruch des weltweit führenden Finanz- und Bankensektors in London. Hier hat die Finanzmetropole zwar etwas an Bedeutung eingebüßt und einige Tausend Arbeitsplätze samt Instituten sind aufs Festland gewandert, insgesamt konnte sich der Finanzsektor jedoch recht robust behaupten.
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass Großbritannien nach dem Brexit weder ins Chaos gestürzt ist, noch dass sich irgendetwas grundlegend gebessert hat. Im Detail ist vieles komplizierter geworden, gerade was in Beziehung zur EU-Welt steht, Handel und Wirtschaft erlitten einige Dämpfer, vor allem zu Beginn – und auch perspektivisch leiden diese Bereiche eher unter dem Austritt, als dass sie profitieren würden. Von rund ein Drittel weniger Investitionen und einer Abnahme von 3 Millionen Beschäftigten bis 2035 geht eine Cambridge Studie aufgrund des Brexits aus. Die Bevölkerung ist in ihrer Freizügigkeit beschnitten worden und hat einen Wohlstandsverlust zu verzeichnen. Infrastrukturprobleme und besonders der Gesundheitssektor stellen nach wie vor die größten Herausforderungen dar. Auch das politische System hat gelitten. Seit der Referendumsankündigung 2015 gab es eine handvoll Premierminister/-in. Das Vertrauen in die Politik ist durch die auf Fake-News basierenden Brexit-Kampagnen weiter gesunken. Die regierenden Torys setzen zwar alles daran, die Migrationspolitik so restriktiv wie möglich zu gestalten und werfen dabei zivilisatorische Errungenschaften über Bord – in der Praxis steigen die Flüchtlingszahlen jedoch weiter. Unter dem Strich hat der Brexit bisher also wenig Gutes für die Briten gebracht, von den Nicht-Briten ganz zu schweigen. Sicherlich ist es allerdings noch viel zu früh, für eine abschließende Bewertung.
Erstaunlich ist, dass nach wie vor eine Mehrheit der Briten hinter der Entscheidung steht oder zumindest annähernd die Hälfte. Nicht zu vernachlässigen ist daher die psychologische Ebene. Das Gefühl wieder an Selbstbestimmung und Autonomie und Freiheit zurückgewonnen zu haben, überstrahlt die eine oder andere Unwägbarkeit. Gerade für so eine Nation, die einst als Empire die Welt beherrschte und seit jeher mit ihrer Zugehörigkeit zu Europa haderte – eine plausible Erklärung. Und natürlich sind die Briten etwas freier und nicht mehr an EU Regelungen, Vorschriften, Normen etc. gebunden, zumindest halbwegs – denn angewiesen auf einen Verkehr mit der EU sind sie ja trotzdem. Einige Wirtschaftszweige profitieren gewiss davon, wenn Umweltauflagen gelockert werden oder Sozialstandards sinken. Wenn der Zeitgeist zunehmend von Konkurrenz als von Kooperation geprägt ist, Nationalismen erblühen und Mauern gezogen werden, ist so etwas wie der Brexit eine fast schon eine logische Konsequenz.
Brexit und nun?
Was folgt aus dem Ganzen? Wie immer gibt es mehrere Betrachtungsweisen. Auf der einen Seite spricht es für das Gebilde der Europäischen Union, wenn sie flexibel genug ist, auch solch einen Exit Prozess zu gewährleisten, zu bewältigen – und dies in einem halbwegs annehmbaren Rahmen. Selbst für das Nordirland Problem mit der Grenze zu Irland wurde eine Lösung gefunden. Es zeigt auch, dass ein Austritt nicht gleich den Untergang bedeutet. Die Schweiz, Norwegen und Island beweisen schon lange, dass Wohlstand, Demokratie und ein gutes Leben auch ohne eine EU-Mitgliedschaft möglich ist.
Nichtsdestotrotz stellt der Austritt Großbritanniens eine, oder gar die Zäsur für die EU dar. Hier bedarf es einer detaillierten und intensiven Aufarbeitung und Selbstreflexion. Das Ausmaß dieses Vorgangs ist bei weitem noch nicht im innersten der Institutionen angekommen. Bisher galt es, den Austrittsprozess praktisch zu gestalten und abzuwickeln, eine Aufarbeitung hingegen steht noch aus. Hier wäre so etwas wie eine Enquete-Kommission wünschenswert, welche die Ursachen und Gründe benennt, wie es so weit kommen konnte, dass sich eines der bedeutendsten Kernmitglieder abwendet. Dies erfordert gewiss Mut und würde nicht zuletzt den Anstoß geben für eine generelle Auseinandersetzung mit dem Selbstverständnis und der Organisation der EU. Die Unzufriedenheit mit der gegenwärtigen EU, den Demokratiedefiziten, den Intransparenzen und der Machtausübung dürfen nicht ignoriert werden. Die Europawahlen zeigten deutlich, dass die euroskeptischen Fraktionen erstarken und Begriffe wie Dexit, Dänexit und Frexit rücken weiter in den Mainstream. Ohne den Willen zur Aufarbeitung und zu Reformen, die die EU den Bürger wieder näherbringt, droht eine stetige Entfremdung, die letztlich auch das Potential eines Scheiterns in sich trägt.
Dieses Scheitern können wir uns jedoch nicht leisten. Im Gegenteil, dieses Projekt steht für Frieden, Kooperation, Solidarität – Menschenrechte, Demokratie – Fortschritt im besten Sinne – nur Gemeinsam können wir die Probleme bewältigen und der Welt Vorbild sein. Aktuell scheinen diese Ideale aber kaum noch durch, teilweise gibt es gar eine gegenteilige Entwicklung.
Der Brexit zeigt, ein weiter so verbietet sich im Grunde. Reformen sind dringend nötig, eine Aufarbeitung und eine breite Diskussion der Europäischen Gesellschaft über die Zukunft wären angezeigt. Letztendlich lebt die EU von den Menschen, aus denen sie geformt ist. Ideale haben es in diesen Zeiten nicht leicht, sie aufzugeben wäre jedoch fatal. Die viel beschworenen Werte gilt es mit Inhalten zu füllen, nur so kann Glaubhaftigkeit und Authentizität zurückerlangt werden.
Der Brexit kann Mahnung und Ansporn zugleich sein – vielleicht birgt er langfristig die Chance auf eine bessere EU.
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