Arved Schönberger
Hintergund
Vor kurzem wurde die 8 Milliarden Marke an Menschen, die unseren Planeten bevölkern überschritten und es dürfte nur eine Frage der Zeit sein, bis wir auch die 9 Milliarden Marke überschreiten. Doch was sich global nach endlosem Wachstum anhört, ist lokal betrachtet wesentlich diffiziler. Das Bevölkerungswachstum betrifft vor allem die Regionen, die wir gemeinhin als 3. Welt bezeichnen, wo Armut auf niedrige Bildung trifft und die Wirtschaftsverhältnisse eher neokolonial, als stark und autark geprägt sind. Auf der anderen Seite stehen die hochindustrialisierten Wirtschaftsmächte wie die G 7 Staaten, Japan, Deutschland, USA und ähnliche Gesellschaften. Es scheint, als ob ab einem gewissen Grad des Wohlstandes und der wirtschaftlichen Entwicklung die Geburtenrate sinkt und unter die Reproduktionsgrenze fällt, so dass die Bevölkerung langfristig zu schrumpfen beginnt.
Unter dem Begriff „demographischer Wandel“ ist dieses Phänomen seit Jahrzehnten bekannt und beschrieben.
Geburtenrate in Deutschland
Speziell in Deutschland kam es zudem zu einem regelrechten Geburtenknick in der Nachwendezeit, vor allem in den neuen Bundesländern. Die unsichere und turbulente Wendezeit stand Kinderwünschen entgegen. Zudem fiel die ausgeprägte Geburtenförderung der DDR mit all ihren Anreizen weg. In Ostdeutschland sank die Geburtenrate von 1,67 Kindern pro Frau im Jahr 1988 auf 0,7 im Nachwendejahr 1994. Auch wenn sich die Geburtenraten in den letzten Jahrzehnten wieder erholt haben, liegen sie mit 1,53 (Stand 2021) noch unter denen zu DDR- Zeiten und auch weiterhin unter der Reproduktionsgrenze von über 2 Geburten pro Frau, die davon abgesehen auch in der DDR seit den 70er nicht mehr erreicht wurde. Ein weiterer Trend ist die immer später einsetzende Geburt des ersten Kindes. Bekamen im Osten 1988 Frauen ihr erstes Kind im Durchschnitt mit Anfang 20 – so sind sie heute durchschnittlich knapp 30 Jahre alt. Diese Entwicklung ist in nahezu allen entwickelten Wohlstandsnationen zu beobachten – sobald das Wohlstandsniveau steigt, die Wirtschaft prosperiert, nimmt die Geburtenrate ab. Ausnahmen gründen sich zumeist auf religiöse Gruppen – so hat Israel als Wohlstandsnation eine relativ hohe Geburtenrate durch ihre streng religiösen Gruppen wie den orthodoxen Juden, bei denen das Kinder gebären quasi zur religiösen Erfüllung zählt. Die meisten als westlich definierten Industrienationen, und dazu gehören sämtliche EU Länder, haben eine Fertilitätsrate, also die Geburten pro Frau, von unter 2. Damit würde die Bevölkerung in allen EU Staaten schrumpfen, gäbe es keine Zuwanderung. Nur durch den permanenten Zuzug von Menschen aus Drittstaaten wächst die Bevölkerung der Union. Ein weiterer Effekt des demographischen Wandels ist die zunehmende Alterung. Die klassische Alterspyramide einer Gesellschaft aus vergangenen Zeiten stellt sich zunehmend auf den Kopf. Die geburtenstarken Jahrgänge werden älter und rücken weiter nach oben und werden von einem sich verschlankenden Fundament getragen. Diese Entwicklung stellt die EU und andere Wohlstandsnationen vor große Herausforderungen, kommen die Effekte doch immer deutlicher zum Tragen.
Maßnahmen
Kurzfristig wird sich die Fertilitätsrate nicht großartig steigern lassen und ob dies langfristig gelingt ist ebenso fragwürdig. Fakt ist, die geburtenstarken Jahrgänge, die das Fundament und die Essenz unserer Gesellschaft bilden, beginnen langsam massenhaft in den wohlverdienten Ruhestand abzuwandern. Die benötigte Arbeitskraft, die es zu ersetzen gilt, ist durch die nachrückenden Generationen nur schwer realisierbar. Hinzu kommt, dass die alternde Bevölkerung ein immenses Bedürfnis nach medizinischer und pflegerischer Versorgung generieren wird, also zusätzlich enorme Arbeitskraft an sich binden wird.
Sprich- ohne Einwanderung würde unser Gesellschaftssystem irgendwann kollabieren. Durch den ständigen Zustrom von Menschen ist die Bevölkerung trotz niedriger Geburtenrate in Deutschland dennoch am Wachsen. Abseits der demographischen Entwicklung spielt die Entwicklung der Wirtschaft eine Rolle. Zu Zeiten des Wirtschaftswunders fehlten trotz hoher Fertilität Arbeitskräfte. Die angeworbenen Arbeiter wurden zumeist in der Industrie oder der Bauwirtschaft für körperlich anstrengende, dafür aber nur gering qualifizierte Arbeiten benötigt.
Der Wandel der Arbeitswelt, zunehmende Digitalisierung und Automatisierung erfordert zunehmend qualifizierte Facharbeiter. Neue Wirtschaftszweige, wie die Robotik und Informatik entstanden und rissen neue Lücken bei der Besetzung von Fachkräften. So kommen zwei Faktoren zusammen, zum einen der generelle demographische Wandel und dazu der steigende Bedarf an hoch qualifizierten Fachkräften der sich wandelnden Industrie.
Der natürliche Zustrom an Menschen kann diese Anforderung nur bedingt decken.
Darum setzen die EU und Deutschland auf gezielte Einwanderung aus Drittländern und haben ein Instrumentarium geschaffen, was die Attraktivität des hiesigen Arbeitsaufenthaltes erhöhen soll. Im Gegensatz zu den „Gastarbeitern“ von damals liegt jetzt jedoch der Fokus auf gut ausgebildeten Akademikern für ganz spezielle Branchen. Die sogenannte Blue-Card, in Anlehnung an die bekannte US-Amerikanische Green Card – soll dabei helfen, den Zustrom an dringend benötigten Ingenieuren, Ärzten, Informatikern und ähnlich hoch Qualifizierten anzukurbeln. Die Ursprünge der Blue Card liegen in einer EU- Verordnung von 2009. Seitdem hat der demographische Wandel weiter an Fahrt gewonnen und der Mangel an qualifizierten Arbeitskräften beschränkt sich lange nicht mehr nur auf diese hochqualifizierten akademischen Berufsfelder.
So kann die Blue Card lediglich als Vorreiter für weitere ähnliche Maßnahmen und Programme angesehen werden, die zukünftig benötigt werden. So ging Deutschland vor wenigen Wochen mit dem Fachkräfteeinwanderungsgesetz einen weiteren Schritt in diese Richtung und weitete das Feld der gesteuerten Migration.
Alles im grünen Bereich mit der Blue Card?
Um in der EU oder Deutschland arbeiten zu können, müssen so einige Hürden genommen werden. Es ist nicht leicht, einfach so aus einem Drittstaat einzureisen und zu arbeiten. Die Hürden sind derart hoch, dass tausende verzweifelte Menschen an den Grenzen der EU ihr Leben verlieren, bei dem Versuch EU-Land zu betreten. Dem Großteil der Weltbevölkerung ist es praktisch unmöglich überhaupt an ein (Touristen-) Visum zu kommen, geschweige denn die Option, sich dauerhaft niederzulassen und zu arbeiten. Aber genau das wollen wir ja für die fehlenden Top-Arbeitskräfte im Hightech-Segment unserer Wirtschaft, der Medizin und Forschung erreichen. Für diese Gruppe wurden die Hürden durch die Blue Card gesenkt, damit für sie die Grenze durchlässiger ist. Dabei ist die Blue Card die Weiterentwicklung ähnlicher vorangegangener Regulierungen, die besonders im Vertrag von Lissabon 2009 Eingang fanden. Gerade der akademische Bereich ist schon jeher auf Internationalität bedacht und bot Möglichkeiten für Forschungs- und Arbeitsaufenthalte im Wissenschaftsbereich. Konkret in Gesetzesform wurde die EU-Richtlinie zur Blue Card in Deutschland 2012 gebracht.
Um diese Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis in Form der Blauen Karte zu erhalten, sind jedoch immer noch eine ganze Reihe an Voraussetzungen geknüpft. Die Bedingungen für eine Blue Card in Deutschland sind folgende:
- Ein abgeschlossenes Hochschulstudium ist Voraussetzung und ein Arbeitsplatz, der diesem Studium entspricht. Der Abschluss muss vergleichbar mit einem hiesigen sein und auch anerkannt, bzw. eine Anerkennung möglich sein.
- Zudem muss eine bestimmte Lohngrenze erreicht werden. In der Regel muss das Gehalt mindestens zwei Drittel der Beitragsbemessungsgrenze betragen, in sogenannten Mangelberufen nur 52 %. Das sind aktuell mindestens 58.400 Euro Bruttoverdienst im Jahr bzw. 45.500 Euro in Mangelberufen. Zu den Mangelberufen gehören die Humanmedizin, Mathematik, Ingenieurswesen, Informatik und Naturwissenschaften.
EU Blue Card – Vor- und Nachteile
Bevor also die Blaue Karte beantragt werden kann, muss bereits ein konkretes und verbindliches Job-Angebot vorliegen. Beantragt und ausgestellt wird die Blaue Karte von der Ausländerbehörde in Deutschland oder dem jeweiligen EU-Land. Das heißt: für Länder ohne Visumsfreiheit muss zunächst ein Visum ausgestellt werden, um einzureisen. Vor Ablauf des Visums gilt es dann, die Blaue Karte zu beantragen. Bei Staaten wie den USA, Großbritannien oder Neuseeland, bei denen Visumsfreiheit herrscht, können die Menschen normal einreisen und müssen die Karte dann innerhalb von 3 Monaten beantragen. Menschen, die bereits mindestens 18 Monate eine Blue Card in einem anderen EU Land haben, können Visumsfrei einreisen und innerhalb eines Monats den Antrag stellen. Besteht bereits ein Aufenthaltstitel in Deutschland, so kann der Antrag einfach bei der Ausländerbehörde gestellt werden.
Der Vorteil ist, dass ein Rechtsanspruch auf Erteilung der Karte besteht, wenn die Voraussetzungen erfüllt sind. Zudem entfällt die Beteiligung der Arbeitsagentur, außer bei den Mangelberufen. Dort erfolgt eine Vergleichbarkeitsprüfung in Bezug auf Gehalt, Arbeitszeiten und Arbeitsbedingungen, um Missbrauch zu verhindern. Denn ein Kritikpunkt an der Blauen Karte betrifft die Lohndifferenz gegenüber heimischen Angestellten und die Gefahr des Lohndumpings. Weitere Vorteile der Blauen Karte gibt es beim Familiennachzug, so können Ehegatten auch ohne Sprachkenntnisse eine Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis erhalten.
Generell ist es vorgesehen, dass der Arbeitsaufenthalt auf 4 Jahre befristet ist. Sind die Voraussetzungen weiter gegeben, kann auch weiter verlängert werden. Läuft der Arbeitsvertrag weniger als 4 Jahre, so gilt die Regelung für die Dauer des Arbeitsverhältnisses plus 3 Monate. Ähnlich sieht es bei unerwarteter Arbeitslosigkeit aus, hier kann ein Aufenthaltstitel zur Arbeitssuche für ein halbes Jahr ausgestellt werden. Kommt es zu einem Arbeitsplatzwechsel innerhalb der ersten 2 Jahre, werden erneut die Voraussetzungen geprüft. Läuft es mal nicht so rund, müssen die Fachkräfte auch schlimmstenfalls mit Abschiebung rechnen. Allerdings ermöglichen sich durch die Blue Card auch erleichterte Daueraufenthaltsrechte. So ist ein dauerhafter Aufenthaltstitel nach 33 Monaten Beschäftigung bei einfachen Deutschkenntnissen möglich, beim Sprachniveau auf B1 Level sogar schon nach 21 Monaten. Bis auf Dänemark und Irland gibt es in allen EU-Ländern ähnliche Regelungen für die Blue Card. Vor allem die zu erzielenden Mindesteinkommen unterscheiden sich dabei.
Zahlen
Schaut man sich die Ausstellungen der Blue Card für Deutschland an, so sind diese im stetigen Wachstum begriffen. Nach der Einführung gab es 2013 knapp 11.290 Fachkräfte mit diesem Aufenthaltstitel, knapp 10 Jahre später sind es fast 70.000. Einen großen Anteil daran haben ehemalige Studenten, die bereits einen Aufenthaltstitel zum Studieren besaßen und nach Abschluss hier weiter arbeiten. 2021 waren dies knapp 1/3 aller Blue-Cardler.
Insgesamt hatten 2021 rund 20 % aller, die eine befristete Aufenthaltsgenehmigung zum Erwerbszweck innehatten, eine Blaue Karte. So hat dieses Instrument der Arbeitsmarktregulierung einen bedeutenden Anteil erlangt und wird ihn künftig sicherlich weiter ausbauen, auch wenn das Wachstum durch Corona und Co einen leichten Dämpfer erfuhr. Schaut man sich die Vergabe von Blue Cards in den jeweiligen EU Ländern an, fällt auf, dass Deutschland mit großem Abstand die meisten ausstellt. Der Anteil lag 2015 bei 87 % aller Karten, die auf Deutschland entfielen, ähnlich hoch ist er auch heute noch. 2018 stellte Deutschland 17.630 Blaue Karten aus und an zweiter Stelle folgt Frankreich mit lediglich 750. Nur Luxemburg kommt in Relation zu seiner Einwohnerzahl auf einen nennenswerten Anteil neben Deutschland. Mit 636 Ausstellungen 2018 erreichte Luxemburg ähnlich viele wie das weitaus größere Frankreich.
Ursachen hierfür sind neben dem unterschiedlichen Bedarf an Arbeitskräften auch die unterschiedlichen Regelungen zur Blue Card. So ist die Ausgestaltung in anderen Ländern weniger attraktiv, die Mindestgehaltsgrenzen oft zu hoch. Das zu erzielenden Einkommen spielt natürlich auch eine Rolle – in Bulgarien etwa liegt das Mindestgehalt bei gerade einmal bei 8.725 Euro pro Jahr (2018) – da sind die Gehälter in den Ursprungsländern oft höher.
Daneben haben die einzelnen EU Staaten auch parallel zur Blue Card eigene Programme zur Anwerbung von Fachkräften.
Auf EU Ebene gibt es seit längerer Zeit schon Bestrebungen, die Regelungen zu vereinheitlichen und doppelte Strukturen abzubauen, mit mäßigem Erfolg. Das Thema Arbeitsmigration ist ebenso wie das Migrationsthema generell ein sehr sensibles, zu dem die verschiedenen EU-Mitgliedsstaaten weit auseinanderliegende Vorstellungen haben.
Fazit
Der demographische Wandel betrifft die gesamte Union. Gemeinsame Lösungsansätze und einheitliche Regelungen, wie sie mit der Blue Card zum Teil realisiert sind, sind der richtige Weg. Nationale Alleingänge und Konkurrenzverhalten, wie sie gerade beim Migrationsthema stattfinden, widersprechen der europäischen Idee und schwächen die Gemeinschaft. Das Potential der Weiterbildung und Qualifizierung darf ebenso nicht außer Acht gelassen werden. Gezielte Einwanderung wird nicht die komplette Lösung all unserer Probleme sein können. Grundlegende Reformen des Wirtschaftens und der Arbeitsorganisation werden in Zukunft nötig sein, um auf die Probleme des Arbeitskräftemangels sowie der Umwelt angemessen Antworten zu finden. Dabei sind dies im Grunde globale Themen – hier sollte vielleicht auch angemerkt werden, dass die Gefahren des Brain-Drains bestehen. Die Auswanderung der Akademiker kann ebenso zu Mangel in den Herkunftsländern führen. Zudem liegen die Ausbildungskosten in den Ursprungsländern. Hier darf der internationale Fokus nicht aus den Augen verloren werden. Im besten Fall befruchten sich durch die Internationalität der Arbeitswelt die Regionen gegenseitig.
Im Grunde geht es darum, Schranken abzubauen – die globalen Probleme kennen keine Ländergrenzen. Große Probleme bereiten auch nach wie vor die Anerkennung von Abschlüssen.
Für Deutschland scheint die Blue Card ein Erfolgsmodell zu sein. Damit dies auch für die gesamte EU gelten kann, sind Reformen nötig. Der Bedarf an Arbeitskräften, ob qualifiziert oder weniger qualifiziert, wird demnächst gewaltig sein. Die Vorbereitung darauf darf nicht verschlafen werden. Die Blue Card ist dabei ein Baustein, aber nicht der einzige.
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