Arved Schönberger
Vom 6. bis 9. Juni sind die Wahlen zum Europäischen Parlament in den Mitgliedstaaten der EU. Die neuen Abgeordneten entscheiden dann für die kommenden fünf Jahre über die demokratische Ausrichtung Europas. Wie der Aufbau des EU Parlaments ist und die Grundlagen des Wahlsystems sind, erfahren Sie im ersten Teil unserer Artikelserie zur EU-Wahl.
27 Länder, rund 350 Millionen Wahlberechtigte und 720 zu vergebende Parlamentssitze in Straßburg. Das sind die Kennzahlen für die Europawahlen vom 6. bis 9. Juni 2024. Es geht darum, die Mitglieder des EU-Parlaments für die nächsten 5 Jahre zu bestimmen. Es sind die einzigen Wahlen, in denen die EU-Bürger direkten Einfluss auf die Zusammensetzung einer EU-Institution haben. Daher ist diese kommende Wahl der bedeutendste demokratische Akt, den die EU-Bürger auf EU-Ebene wahrnehmen können und dürfen. Die nächste Gelegenheit dazu wird es erst wieder 2029 geben.
Die Wahl des EU-Parlaments ist der Vorgang, der einer demokratischen Willensbildung im Sinne einer repräsentativen Demokratie am nächsten kommt und spielt nicht zuletzt für die demokratische Legitimation der EU eine entscheidende Rolle. Umso wichtiger ist es daher, diese Wahl in das Bewusstsein ihrer Bürger zu bringen. Die Lebendigkeit und Akzeptanz der Europäischen Union fußt nicht zuletzt auf einer politisch aktiven Bürgerschaft. Die Beschäftigung und Auseinandersetzung mit den EU-Institutionen, den Programmen der Kandidaten und der aktiven Partizipation durch die Wahl bieten Chancen, die Idee der Europäischen Union wieder näher an die Menschen zu bringen, für sie zu werben. Demokratie lebt von der Lebendigkeit und Mitgestaltung aller, nur wer sich damit beschäftigt, wird in der Lage sein, Prozesse zu verstehen, Probleme zu benennen, für Verbesserungen zu kämpfen.
Dieser Text soll zum einen ein Appell für die Teilnahme an den Wahlen sein und zudem ein wenig Licht in die Hintergründe und zur Funktionsweise des EU-Apparats bringen. Als erstes stellt sich da natürlich die Frage, was wird da überhaupt gewählt?
Das EU-Parlament
Im kommenden Europaparlament werden 720 Mitglieder aus 27 EU-Ländern vertreten sein. Vor jeder Wahl gibt es einen Beschluss über die Anzahl der zu vergebenden Mandate im Parlament, die Höchstgrenze ist auf maximal 750 Sitze plus Parlamentspräsident/-in festgelegt. Die Mandate sind dabei unter den EU-Mitgliedsländern aufgeteilt. Je größer und stärker das Land – desto mehr Sitze, kurz gesagt. Dabei gibt es eine Untergrenze von 6 Sitzen und eine Obergrenze von 96. Vor jeder Wahl werden diese Ländersitze an aktuelle Entwicklungen angepasst. So bekommen etwa die Niederlande für die kommende Legislaturperiode 2 Sitze mehr als in der jetzigen und steigern ihren Stimmenanteil von 29 auf 31. Slowenien steigert sich von 8 auf 9 Sitze und auch Frankreich bekommt ein Mandat mehr und damit 81 Mandate. Insgesamt sind es 15 Sitze mehr im kommenden Parlament. Deutschland hat mit 96 Sitzen bereits die Obergrenze erreicht und ist auch das Land mit den meisten Parlamentsvertretern. Zypern und Luxemburg bilden mit jeweils 6 Parlamentariern die Untergrenze. Damit die kleineren Länder nicht zu sehr in das Hintertreffen gegenüber den Schwergewichten geraten, gilt die degressive Proportionalität. Das bedeutet, dass bei diesen Ländern pro Abgeordneten weniger Einwohner nötig sind, als bei den Großen. Dies sorgt für einen gewissen Kräfteausgleich bei der Sitzbestimmung.
Eine Legislaturperiode dauert 5 Jahre, die letzte Wahl zum Europäischen Parlament fand 2019 statt. Mit der Wahl werden alle Mandate neu bestimmt, ähnlich der Wahl des Bundestages in Deutschland. Der offizielle Sitz des Parlaments ist in Straßburg. Hier finden jährlich 12, jeweils viertägige Plenarsitzungen statt. Die Ausschüsse und Fraktionen tagen jedoch in Brüssel und das Generalsekretariat hat seinen Sitz in Luxemburg. Diese Konstellation ist historisch bedingt, führt allerdings zu erheblichen Kosten beim Pendelverkehr der Parlamentarier und der Beamten und steht seit langem in der Kritik. Allerdings ist man sich des Problems bewusst und durch Rationalisierungsprozesse gelang es auch schon, die Kosten etwas zu senken. Immerhin zählen zum Europäischen Parlament mehrere Tausend Mitarbeiter, von einfachen Assistenten bis hin zu höheren Bediensteten sind es aktuell knapp 7.700 Mitarbeiter, die direkt beim Europäischen Parlament beschäftigt sind. Mit rund zwei Milliarden Euro jährlich schlägt der Haushaltsposten zum Betrieb des Parlaments zu Buche, was ca. einen Fünftel der Gesamtverwaltungsausgaben der EU und 1,2 % des EU-Gesamthaushaltes ausmacht.
Die Abgeordneten schließen sich wie bei den meisten Parlamenten üblich auch hier zu Fraktionen zusammen, je nach politischer Ausrichtung. So ist nicht die Nationalität eines Mandatsträgers entscheidend, sondern seine politische Verortung. Hierbei decken die Fraktionen das Spektrum von ganz rechts bis ganz links, grün und liberal ab. Für den Status einer Fraktion sind seit 2009 mindestens 25 Abgeordnete aus mindestens einem Viertel der Mitgliedstaaten erforderlich. Die Fraktionen bestimmen jeweils einen Fraktionsvorsitzenden aus ihrer Mitte. Zusammen mit dem/der Parlamentspräsidenten/-in bestimmen sie unter anderem in der „Konferenz der Präsidenten“ die Tagesordnung der Parlamentssitzungen.
Die aktuelle Zusammensetzung
In der aktuellen Wahlperiode von 2019 macht die Fraktion der konservativen Europäischen Volkspartei EVP mit 177 Sitzen die größte Fraktion aus. Zu ihr gehören die deutsche CDU/ CSU genauso wie die griechische Nea Demokratia oder die französischen Les Republicans. Die zweitstärkste Fraktion bildet die S&D, in der sich die sozialdemokratischen Kräfte vereinen und auch die deutsche SPD zu finden ist. Ebenfalls stark ist die liberale Fraktion Renew (102 Sitze) und die Grünen/EFA (72 Sitze). Weiter rechts finden sich noch eine weitere rechts-konservative Fraktion EKR und die rechtsextreme ID – Identität und Demokratie Fraktion, zu der auch die deutsche AfD, die österreichische FPÖ und der französische Rassemblement National von Marie Le Pen gehören. Zusammen kommt die ID Fraktion auf 59 Sitze. Zählt man die 68 Sitze der ebenfalls rechtsaußen EKR Fraktion hinzu, kommt man auf 127 Abgeordnete, die rechts von der EVP stehen. Mit 49 Sitzen sind die Fraktionslosen ebenfalls eine recht große Gruppe, deren politische Bandbreite alle Schattierungen widerspiegelt, wobei es einen starken Ausschlag ins Rechtspopulistische gibt. Interessanterweise findet sich auch die rechte ungarische Regierungspartei Fidesz mit 12 Mandaten unter den Fraktionslosen. Links von der Sozialdemokratie kommt die Linke Fraktion auf lediglich 37 Sitze. Hier finden wir die deutsche Linke oder auch die griechische Syriza wieder.
So spiegeln die unterschiedlichen Fraktionen auch die Bandbreite des politischen Spektrums wider, welches von weit links, über die Mitte bis hin zu demokratiefeindlichen und EU-ablehnenden Positionen weit rechts reicht. Für ein breites politisches Spektrum sorgt ebenfalls das Wahlrecht, wo es in vielen Ländern keine Sperrklausel wie die 5%-Klausel oder ähnliches gibt. Zudem treten eine Vielzahl der verschiedensten Wahlbündnisse und Parteien der 27 Mitgliedsstaaten an, so dass es für „Exoten“ mehr Chancen gibt, als beispielsweise bei Parlamentswahlen nach dem Mehrheitsstimmprinzip. Zum Ablauf der Wahlen später noch mehr. Nur so viel kurz, jedes EU-Land kann das Wahlverfahren bei der Wahl seiner Sitze in einem gewissen Rahmen selbst bestimmen.
Mitglieder einer nationalen Partei innerhalb einer Fraktion sind zudem lose als nationale Delegation verbunden. Bei Abstimmungen spielen oft auch nationale Interessen eine Rolle, so dass es häufig auch innerhalb einer Fraktion zu abweichenden Stimmen kommt. Die Fraktionsdisziplin ist weniger stark ausgeprägt als beispielsweise im Bundestag. Auch gibt es keine Koalitionen im engeren Sinn. Das Parlament bestimmt auch keine Regierung.
Ein wichtiger Posten ist der des/der Parlamentspräsidenten/-in. Dieser Posten wird pro Legislaturperiode zweimal vom Parlament gewählt, also alle 2,5 Jahre. In der Regel haben darauf die zwei stärksten Fraktionen, die EVP sowie die Sozialdemokraten einen großen Einfluss und wechseln sich mit den Präsidentschaften ab. Aktuell bekleidet noch Roberta Metsola das Amt der Präsidentin, bis im Juni das neue Parlament gewählt wird. Sie ist derzeit die jüngste Person, die dieses Amt übernommen hat.
Die Arbeit des Parlaments und die Beschaffung von Mehrheiten müssen permanent verhandelt werden und eine hohe Kompromissfähigkeit ist gefragt, wobei die stärksten Fraktionen eine Schlüsselposition innehaben. Wichtig für die Arbeit des Parlaments sind zudem die Ausschüsse. Insgesamt decken 20 Ausschüsse und 3 Unterausschüsse nahezu sämtliche Politikfelder ab, hinzu kommen auch noch Sonderausschüsse sowie Untersuchungsausschüsse. Hier findet ein Großteil der parlamentarischen Arbeit statt. Sie bestehen aus 25 bis 76 Parlamentariern, die nach den gleichen Kräfteverhältnissen des Parlaments besetzt sind. Für jedes ständige Mitglied gibt es auch noch eine Vertretung. Aus der Mitte der ständigen Mitglieder wird ein/e Vorsitzende/r gewählt (ebenfalls für 2,5 Jahre), sowie bis zu vier stellvertretende Vorsitzende. Alle Ausschussvorsitzenden bilden zusammen die Konferenz der Ausschussvorsitze und stimmen zusammen mit der Konferenz der Präsidenten Parlamentsangelegenheiten sowie Tagesordnungen ab. In den Ausschüssen werden Gesetzesvorhaben beraten, Experten angehört, Änderungsvorschläge abgestimmt und eine Gruppe von Abgeordneten bestimmt, die im Gesetzgebungsverfahren Verhandlungen mit dem Rat führen und vorbereiten. Zudem üben sie Kontrolle über die anderen EU-Organe aus. Da die Arbeit der Ausschüsse nicht explizit in den Verträgen geregelt ist, kommt es gelegentlich zu Kompetenzgerangel. Zusammenfassend kann aber gesagt werden, dass ein wesentlicher Teil der parlamentarischen Arbeit in diesen Ausschüssen stattfindet.
Ein ebenso wichtiges Organ ist das Präsidium. Zusammen mit dem Präsidenten des Europäischen Parlaments wird es aus 14 weiteren Vize-Präsidenten, die ebenfalls aus der Mitte des Parlaments gewählt werden, gebildet. Hinzu kommen noch 5 sogenannte Quästoren, die für die Interessen der Parlamentarier als Abgeordnete zuständig sind. Das Präsidium, welches auch als das Büro bezeichnet wird, unterstützt den Präsidenten bei seinen Aufgaben, ist für das Budget des Parlaments zuständig und kümmert sich um Verwaltungs- und Verfahrensangelegenheiten. Das EU-Parlament kann sich auf einen großen Verwaltungsapparat stützen, der die Abgeordneten bei ihrer Arbeit unterstützt. Das reicht vom juristischen Dienst bis hin zu Übersetzungsdiensten und einfachen Verwaltungstätigkeiten. Ein Großteil der Bediensteten des EU-Parlaments arbeitet in diesem auf 12 Generaldirektionen aufgeteilten Verwaltungsapparat, der seinen Sitz in Brüssel und Luxemburg hat. Die Abgeordneten selbst erhalten eine monatliche Sekretariatszulage und können damit eigene Assistenten beschäftigen. Zurzeit sind ca. 1400 parlamentarische Assistenten akkreditiert, was ungefähr zwei Angestellte pro Abgeordneten entspricht.
Mit der Wahl des EU-Parlaments stehen also bedeutende Neuordnungen eines der wichtigsten Organe der EU an. Die Kräfteverhältnisse der Fraktionen werden neu bestimmt, eventuell entstehen sogar neue, die Ausschüsse werden neu besetzt, der/die Präsident/in samt Präsidium und auch zahlreiche Mitarbeiter von Abgeordneten müssen um den Wiedereinzug ihrer Arbeitgeber in das Parlament bangen.
Wie genau läuft die Wahl jedoch ab?
Die EU-Parlamentswahl
Die Europäische Union hat seit ihrer Gründung einige Entwicklungen vollzogen. Eine der bedeutendsten davon war die Einführung des allgemeinen Wahlrechts und die Direktwahl des EU-Parlaments im Jahr 1979. So ist dieses Parlament bis heute die einzige supranationale Institution weltweit, die direkt von den Einwohnern dieses Staatengebildes gewählt wird. Kompetenzen, Verfahren und die Organisation wurden seitdem zwar immer wieder reformiert, doch die Direktwahl blieb im Kern erhalten. Die heutige Organisation des EU-Parlaments und aller weiteren EU-Organe basieren auf der letzten größeren Neuregelung der Verträge, dem Lissabon-Vertrag von 2007, der 2009 in Kraft trat. Zudem gibt es noch eine Reihe spezifischer Verträge, die die Wahlen regeln. Auch wird vor jeder Wahl nochmals über die zu verteilenden Sitze und die genauen Modalitäten abgestimmt und dies in Zusammenarbeit mit dem Europäischen Rat. So wurde 2014 die maximale Abgeordnetenzahl auf 750 plus Präsident festgelegt oder die Sitzverteilung für die 2024er Wahl bei 12 Staaten angepasst.
Alle 5 Jahre sind die EU-Bürger also aufgerufen, ihre Stimme für die Besetzung des EU-Parlaments abzugeben. Die Wahl findet über einen festgelegten Zeitraum statt. Es hat sich etabliert, dass dies vier Tage, von Donnerstag bis Sonntag, sind. In einigen Ländern ist es Tradition unter der Woche zu wählen, an mehreren Tagen, oder wie in Deutschland am Sonntag. 2024 wird zwischen dem 6. und 9. Juni gewählt. Ergebnisse und Hochrechnungen sollten erst nach Beendigung des Wahlvorganges am Sonntagabend verkündet werden, um eventuelle Wahlbeeinflussungen zu vermeiden. In der Vergangenheit hat dieses Gebot nicht immer reibungslos funktioniert.
Wahlberechtigt sind Angehörige eines EU-Staates. EU-Bürger, die in einem anderen EU-Staat wohnen, können entscheiden, ob sie ihre Stimme für das Land in dem sie gerade wohnen, oder für ihren Geburtsstaat abgeben. Pro Bürger eine Stimme, so der Grundsatz. Bei früheren Wahlen kam es jedoch auch zu doppelten Stimmabgaben. Eine Änderung des Wahlgesetzes, um dies zu verhindern, konnte für 2024 noch nicht in Kraft treten, ist aber in Arbeit. In der Regel sind diejenigen wahlberechtigt, die auch für die nationalen Parlamente wahlberechtigt sind. Das Wahlalter schwankt zwischen 16 und 18 Jahren. In Deutschland wurde 2023 das Wahlalter für die Europawahl von 18 auf 16 gesenkt. Damit dürfen 2024 erstmals 16-Jährige daran teilnehmen. Belgien, Österreich, Malta und Griechenland sind die Länder, in denen ebenfalls ab 16 gewählt werden darf. Hieran wird schon deutlich, dass die Modalitäten für die Wahl des EU-Parlaments von Mitgliedsland zu Mitgliedsland recht verschieden sein können. Was alle halbwegs eint, ist, dass sich die Wahl am Verhältniswahlrecht orientiert, die Sitze also proportional zu den erreichten Stimmen vergeben werden. Wie jedes Land seine zur Verfügung stehenden Sitze bestimmt, sieht im Detail recht unterschiedlich aus.
Sperrklauseln, Wahlkreise, Listen
Wesentliche Unterschiede bestehen bei der Sperrklausel, in Deutschland auch als 5 %-Klausel bekannt. Ursprünglich gab es diese in Deutschland auch bei der Europawahl, wurde jedoch 2011 vom Bundesverfassungsgericht gekippt und seitdem auch nicht wieder eingeführt. Um einen der 96 deutschen Sitze zu erlangen, sind somit nur rund 0,5 Prozent der abgegebenen Stimmen nötig. Ein Vorteil vor allem für kleinere Parteien und Wählervereinigungen. Dagegen hat eine Mehrheit von 16 EU-Staaten Sperrklauseln zwischen 3 und knapp 6 Prozent in ihren Wahlstatuten verankert.
Ein weiterer Unterschied besteht bei den Wahlkreisen. Die meisten Länder haben einen einzigen. In Deutschland sind es 16, Belgien hat 3, Italien 5 und Polen 13 – alle anderen nur einen. Bei nur einem Wahlkreis sieht der Wahlzettel für alle Einwohner gleich aus. Bei mehreren Wahlkreisen kann sich die Auswahl an Parteien und Wählervereinigungen unterscheiden. In Deutschland muss zum Beispiel für jeden der 16 Wahlkreise ein eigener Wahlzettel erstellt werden, der sich unterscheiden kann, aber nicht muss. So kann es sein, dass zum Beispiel der Südschlesische Wählerbund nur im nordwestlichsten Wahlkreis antritt oder die Freien Sachsen nur in sächsischen Regionen. Gewählt wird nach sogenannten Listen. Das heißt eine Partei reicht eine Liste mit Kandidaten ein und je nachdem wie viel Prozent der Stimmen diese Liste bekommt, ziehen dann proportional entsprechend die Kandidaten nach der Reihenfolge der Liste ein. Jeder Listenkandidat hat auch einen Ersatzkandidaten, der beim eventuellen Ausscheiden ins Parlament nachrückt. Erst wenn der Ersatzkandidat auch ausscheiden sollte, rückt der unterstehende Listenplatz nach. Das bedeutet, wenn eine Liste in Deutschland auf 4 Prozent der Stimmen kommt, ziehen grob geschätzt die ersten 8 Listenplätze ins Parlament ein. Bei den meisten EU-Ländern ist es zudem möglich, durch sogenannte Vorzugsstimmen die Reihenfolge der Liste ebenfalls zu beeinflussen. In Deutschland ist dies nicht vorgesehen. Irland und Malta scheren ein wenig aus und haben noch ein anderes System, das der übertragbaren Einzelstimmgebung, die sich mehr an den Kandidaten als an Listen orientiert und ursprünglich vom Mehrheitswahlsystem abgeleitet wird, aber das nur am Rande.
Entscheidend sind bei fast allen Ländern die Listen, die letztendlich auf dem Wahlzettel stehen. Die Stimmen, die die Listen erhalten, entscheiden darüber, ob und wie viele der Kandidaten es ins Parlament schaffen. In 18 von 27 EU-Staaten haben die Wähler zudem auch einen Einfluss auf die Listenreihenfolge. In Deutschland jedoch entscheidet der Listeneinreicher im Vorfeld über die Reihenfolge der Kandidaten und somit deren Chancen. So ist ein vorderer Listenplatz immer aussichtsreicher als ein hinterer. Dies führt nicht selten zu turbulenten innerparteilichen Auseinandersetzungen bei der Aufstellung dieser Listen. Wie die einzelnen Parteien ihre Listen zusammenstellen, bleibt im Großen ihnen selbst überlassen. Jedoch gibt es auch hier gewisse Grundsätze für die Verfahren. In der Regel werden diese Listen auf Wahlveranstaltungen oder Parteitagen erstellt, wobei es große Unterschiede bei den Verfahren von Partei zu Partei gibt.
Die spannende Frage lautet, wie man es denn auf so einen Wahlzettel bzw. die Liste schafft. Als erstes gibt es die Bestimmungen zum passiven Wahlrecht. Diese unterscheiden sich ebenfalls von Land zu Land. In der Regel können sich Staatsbürger eines EU-Landes wählen lassen, die das 18. Lebensjahr vollendet haben, in einigen Ländern auch 21 oder noch älter, wie beim Ausreißer Italien, wo ein Alter von 25 Jahren notwendig ist. Ein weiterer Unterschied besteht darin, ob sich auch Einzelkandidaten aufstellen lassen dürfen oder nur Listen von Parteien oder Partei ähnlichen Organisationen erlaubt sind. Deutschland gehört zu den Ländern, in denen dies nur Parteien oder Parteiähnlichen Organisationen gestattet ist. In anderen Ländern ist dies auch für Einzelkandidaten möglich. In jedem Fall müssen bestimmte Voraussetzungen erfüllt werden, um es auf den Wahlzettel zu schaffen, auch darf die Einreichung nicht zu spät erfolgen. Bei der Wahl 2019 mussten die Listenvorschläge und Kandidaturen spätestens 83 Tage vor der Wahl eingereicht sein. In der Regel bedarf es einer gewissen Anzahl von Unterstützerunterschriften und in einigen Ländern auch einer Kaution.
In Deutschland ist es so geregelt, dass alle Parteien, die bereits in Landesparlamenten oder dem Bundestag vertreten sind, automatisch ein Antrittsrecht haben. Für alle anderen politischen Vereinigungen galt es 2019 mindestens 4.000 Unterstützerunterschriften von Wahlberechtigten zu sammeln, um bundesweit, also in allen 16 Wahlkreisen anzutreten. Um nur in einem Wahlkreis, was einem Bundesland entspricht, anzutreten, ist ein Promille, aber maximal 2000 Unterschriften von Wahlberechtigten aus dem jeweiligen Bundesland erforderlich. Trotz dieser Hürden traten zur Europawahl 2019 insgesamt 41 Parteien oder ähnliche Vereinigungen in Deutschland an.
Was sollte sich ändern
Es ist davon auszugehen, dass die EU-Wahlgesetzgebung einem Reformprozess unterliegt und es in Zukunft die ein oder andere Änderung geben wird. Seit etlichen Jahren wird beispielsweise darüber diskutiert, ob es nicht auch europaweite Listen geben sollte und europäische Spitzenkandidaten, anstatt der ausschließlich nationalen Wahl der entsprechenden Sitze. Ein zentrales Wahlregister könnte helfen, doppelte Stimmabgaben zu verhindern. Auch gibt es noch bedeutend Luft nach oben, was die Wahlbeteiligung angeht. Weniger als ein Viertel aller wahlberechtigten Slowaken stimmten beispielsweise 2019 ab. Selbst bei Ländern mit einer Wahlpflicht, auch so etwas gibt es in EU Ländern wie Belgien und Griechenland, lag sie nur bei 89 % beziehungsweise bei 57,9 %. In Deutschland wählten immerhin 61,5 %. EU weit lag der Gesamtdurchschnitt bei knapp 50 %, das heißt nur jeder Zweite nimmt sein Recht in Anspruch – der einzigen Möglichkeit, direkt demokratisch auf die Europäische Union Einfluss zu nehmen. Auch ohne die Kopplung der EU-Wahl an andere Wahlen, wie Kommunalwahlen, Landtagswahlen etc., sollte die Bedeutung der EU Wahlen erkannt, verstanden und wahrgenommen werden.
Hier gilt es mehr Aufklärung zu betreiben. Die Bedeutung dieser Wahl sollte jedem/r Bürger/-in bewusst sein. Dazu gehört auch die generelle Aufklärung über die Funktionsweise und Prozesse der EU, die doch oft als ein schwer zu durchdringendes Dickicht erscheint und dem einfachen Menschen fern.
Der zweite Teil dieser Artikelserie wird sich daher ausführlicher mit der Arbeit und der Funktionsweise des Europaparlamentes beschäftigen. Wir wissen jetzt zwar ein paar grundlegende Dinge über den Aufbau des Parlamentes und wie gewählt wird, aber noch nicht genau, was das alles für das Gesamtkonstrukt der EU bedeutet. Dazu mehr im zweiten Teil.
Quellen:
Europäisches Parlament. (https://www.europarl.europa.eu/portal/de)
Wikipedia. (https://de.wikipedia.org/wiki/Wikipedia:Hauptseite)
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